Buchstaben im Kopf
Sigrid Sierleja
Apfellust
Wie eine steinerne Löwin vor den Toren eines alten Schlosses lehnt die Frau reglos im Türrahmen und zieht langsam und genußvoll an ihrer Zigarette. Er tastet genauso langsam und genußvoll mit seinen Augen ihren Körper ab. Ihre prallen festen Brüste sind eingebettet in einen BH wie ein Weihnachtsgeschenk, das als Überraschung auf ihn unter dem Tannenbaum wartet. Was diese Brüste für ihn zu etwas ganz Besonderem macht, ist die Tätowierung auf der rechten Brust: ein rot-gelb-golden leuchtender Apfel. Er kann seinen Duft schon riechen. Er schluckt schwer. Lust kriecht unverhohlen in ihm hoch wie ein Tier, das nach kalter dunkler Zeit endlich aus dem Winterschlaf erwacht.
Seine Großeltern hatten eine Obstplantage, und während seiner Schulferien verbrachte er jede freie Minute auf ihrem Land. Im Frühjahr spielte er mit den anderen Kindern unter einem Dach aus weißen und rosa Blüten. Im Sommer bewarfen sie sich oft mit unreifen Früchten, die zu früh zur Erde gefallen waren. Im Herbst half er bei der Ernte und sah seiner Großmutter bei der Verarbeitung des Obstes zu. Der Winter ließ die Bäume nackt und kahl zurück und stimmte ihn stets traurig. Wenn er seine Augen schließt, hat er den Apfelduft wieder in der Nase, die saftige Süße des Fruchtfleisches auf der Zunge und schwimmt schwerelos in einem Meer von Blüten.
Selbst wenn er in der Zeitung oder auf einem Plakat nur die Abbildung eines Apfels sieht, läuft ihm das Wasser im Mund zusammen. Und wenn er eine Frau anschaut, die einen Apfel ißt, bekommt er sofort Lust auf sie.
Als er an diesem Abend mit seinen Freunden nach einer ausgiebigen Zechtour durch die schummrig erleuchteten Flure des Bordells torkelt und diese Brust mit dem Apfel sieht, weiß er sofort, daß er ihn haben muß. Er fragt die Frau nach ihrem Preis. Hundert Mark. Das erscheint ihm nicht zuviel, obwohl er einen kurzen Augenblick überlegt, wie viele Kilo Äpfel er von diesem Geld kaufen könnte. Doch dann steckt er ihr den Schein in den BH; dabei berührt er behutsam die Tätowierung und erschauert bis ins Innerste.
Die Frau öffnet ihm die Tür zu ihrem Zimmer und fragt ihn nach seinem Namen. Ansonsten ist sie nicht sehr gesprächig. Das ist ihm recht, er will nicht reden, er will nur diesen Apfel. Wie Adam damals im Paradies. Sie geht auf ihn zu, streichelt sein Gesicht, läßt ihre Hände langsam über seinen Körper wandern und beginnt sein Hemd aufzuknöpfen. Er wehrt sie ab und öffnet ihren BH, kommt dem Apfel immer näher. Als der BH zu Boden fällt und ihre Brüste aus dem Käfig befreit sind, wird der Apfel noch größer und schöner. Voller Bewunderung nimmt er ihre Brüste in beide Hände und küßt sie gierig.
Voller Zärtlichkeit bleiben seine Lippen auf dem Apfel haften, genußvoll leckt er über die glatte rot-gelb-goldene Schale, spürt schon den süßen Geschmack der Frucht auf seiner ungeduldigen Zunge.
Das Letzte, an das er sich erinnern kann, als er seine Zähne kraftvoll in das saftige Fleisch des Apfels gräbt, ist ein spitzer, schriller Schrei, der ihm durch Mark und Bein geht.
Dann wird ihm vor Lust schwarz vor den Augen.