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Buchstaben im Kopf

zum Wettbewerb

Michael Bartsch

Charles – der Stuckdrache erwacht

14. Mai 2024
41-60 Jahre

Schläfrig, verängstigt, ungläubig regten sich seine Augenlider. Eine dicke Staubschicht, Patina oder vereinfacht gesagt Dreck ließen ihn um seinen Augenaufschlag nach 60 Jahren kämpfen. Dem jungen Stuckgeist, Charles, gelang es nach mehrmaligen Anläufen, seine Glieder und Lider sowie seinen flüchtigen Körper in Bewegung zu bringen. Charles liebte Staub, feine Sägespäne, kleineste für Menschen nicht sichtbare Partikel, denn sie sorgten dafür, dass sein fragiles, flexibles Wesen wieder Gestalt annahm. Und davon gab es hier in der letzten Zeit genug, denn seit Monaten stand die Villa leer und ab und an wirbelte Besuch den Staub auf. In der Nachbarschaft sägten unabänderlich Tischler Bretter, Leisten und Türen, somit entstand viel von dem unsichtbaren, feinen Lebenselixier für Geister jeglicher Art.

Während der vergangenen sechs Jahrzehnten schlief Charles, was nicht Ungewöhnliches für Hausgeister war, oder genauer gesagt für Stuckgeister, zumal er mit seinen ungefähr 100 Jahren noch ein Teenager war. Sein Familienstammbaum reichte unendliche Generationen zurück, und bedenkt man, dass Stuckgeister mindestens 500 Jahre alt werden, mutete Charles` Alter bei Lichte betrachtet jung an. Zurück zu seinem Schlaf – Alpträume verfolgten Charles in den ersten zehn Jahren, denn sein Familienidyll zerbrach – im wahrsten Sinne des Wortes – innerhalb einer Woche zu Staub. Hingegen erfüllten ihn die letzten 40 Jahren mit tiefer Beruhigung, denn er hatte das Inferno überlebt, was keine Selbstverständlichkeit war und ihn eigentlich umso mehr verunsicherte, als dass er nicht wusste, welche seiner Geschwister, Großeltern sowie Vater und Mutter sich ebenfalls – wie er – retten konnten.

Hübsch der Reihe nach, wie seine Großmutter Gertrud Charles fortwährend ermahnte, wenn Charles mal wieder alle Aufgaben eines Stuckdrachens gleichzeitig erledigen wollte, was ihm nicht gelingen konnte, weil die Aufgaben von Hausgeistern, insbesondere von Stuckgeistern zahlreich waren und viel Erfahrung, Geduld und Übungen erforderten.

Charles Großmutter Auguste heiratete 1890 seinen Großvater Heinrich. Damals brachen für Haus- und Stuckgeister goldene Zeiten an, weil in den damaligen Landen ein Bauboom herrschte. Lehm, Stuck, Holz, Stahl sowie zahlreiche andere Baustoffe wurden zu herrschaftlichen Villen, Häusern, Fabriken, Bahnhöfen, Straßenzügen, Museen usw. verbaut. Folglich war es für junge Stuckgeisterfamilien ein Leichtes, ein eigenes, neues und komfortables Zuhause zu finden.

Heinrich und Auguste entschieden sich nach vierjähriger Bedenkzeit in der Gipsgrube, sich dem Stuckateurmeister Meier anzuvertrauen, denn ihn kannten sie von seinen zahlreichen Ordern sowie Einkäufen in der Gipsfabrik. Meier zeigte dann dem Gipsfabrikbesitzer seine neuesten Entwürfe gründerzeitlichen Stucks, seine Entwürfe sollten für sie und Ihre Kinder Elisabeth und Herrmann das neue Zuhause werden, denn die schönsten Blüten, Köpfe, Tierformen, Schwünge stellte Stuckateur Meier her. Meier sollte die Familie im wahrsten Sinne des Wortes in Form bringen: Die Tochter Elisabeth wollt eine Rose werden, Vater Heinrich ein Widerkopf, Mutter Auguste eine Schnecke und der Sohn Herrmann eine Muschel.

1894 erhielt die Stuckateur Werkstatt Meier & Söhne den Auftrag, in der prosperierenden, mittlerweile im selbigen Jahr mit Stadtrechten versehenen Bäderstadt Bad Harzburg wieder ein Haus mit seinem wunderbaren Stuck auszustatten. Die angesehene Schmiede- und Ackerbürgerfamilie Breitenbach entschloss sich nämlich, ein neues Haus in der Bäckerstraße zu errichten, um einerseits der sich vergrößernden Familie mehr benötigten Platz zu bieten und andererseits vom wachsendem Fremdenzimmerbedarf finanziell zu profitieren. Der Bauherr entschloss sich, im Speisesaal, Gartensaal, Herren- sowie Damenzimmer aufwendigen Blumenstuck und Tierstuck montieren und bemalen zu lassen. Selbst Deckenmalereien brachte neben aufwendigen Tapeten Malermeister Bothe an die Wände und Decken, so dass die Übergänge zwischen Decke und Wand durch das Stuckgesims ein harmonisches Ganzes ergaben.

Dieses Haus sollte es sein, hier wollten Auguste und Heinrich mit ihrer Familie einziehen und es beschützen. Sie freuten sich umso mehr, als dass die meisten ihrer Stuckfreunde auf die nächste große Chance, ein Palais oder Villa zu bewohnen, warteten. Auguste meinte wohlwollend, ohne Neid zu ihrer Familie: Sollen die anderen nur warten, wir sind froh, so ein solides Haus und nette Familie gefunden zu haben.

Architekten und Baumeister erahnten die Existenz der hilfreichen, flüchtigen Geister des Baus seit je her, denn durch das Verarbeiten von Lehm, Gips und Holz ermöglichten sie den flüchtigen Geistern, sich flexibel zu bewegen, sich an ein Haus zu binden und vor allem es zu beschützen.

Und Feinde gab es genügend: Feuer, Blitze, Gasunfälle mit den neuen Gaslampen sowie Wasser. Und hier in dieser wachsenden, selbstbewussten Stadt herrschte von alters her der Geisterfürst Krodo, der besonders mit Wasser versuchte, einerseits seine grenzlose Macht zu demonstrieren und anderseits einfach lediglich damit zu spielen.

Im Haus Breitenbach, so hieß die Villa, bewegten sich die Stuckgeister zügig und hielten Wache, um bei Gefahren die Bewohner zu warnen. Wie geschah das? Brach irgendwo im Haus eine Wasserleitung alarmierte der Entdeckergeist seine Familie im Haus. Alle versuchten dann gemeinsam, Gegenstände zum Fallen zu bringen, damit ein im besten Fall Höllenlärm entstand, so dass die anderweitig beschäftigten Bewohner eine Warnung erhielten und eingreifen konnten. Dabei war es für den Geis nicht einfach, beispielsweise eine Vase umzustoßen, hier waren viele Geister notwendig und gleichzeitig achtete die Geister darauf, so gut es eben ging, ohnehin beschädigte Gegenstände zu zerdeppern. Diese erkannten sie meist am vorhandenen Staub, denn diese waren meist aussortiert, weniger geputzt und geliebt.

In der Villa Breitenbach war ein Kommen und Gehen, Fremdenzimmer wurden vermietet, die Familie wuchs und Freunde und Bekannten kamen zu Besuch, Kinder spielten im Hof, schauten dem Hausherrn Walther Breitenbach beim Schmieden und Beschlagen der Pferde zu. Feuerfunken waren folglich allgegenwärtig, natürlich auch das Wasser zum Abkühlen der Schmiedearbeiten, zumal der kleine Bach Radau, der Lakai Krodos am Hinterhaus, wo sich die Walthers Schmiede befand, vorbeischlängelte. Besonders zur Schneeschmelze bedrohte Krodo die Häuser der Stadt.

Die Stuckgeisterfamilie wuchs ebenfalls. 1920 heiratete Hermann Charles Mutter Herlinde, für alle war genügend Platz und Arbeit im Haus, so dass sich bereits kurz nach der Hochzeit Charles und seine Geschwister das Licht der Welt entdeckten.

1900 und 1920 retteten die Stuckgeister die Villa vor Feuer: ein Funkenschlag der Schmiede einerseits und ein Schornsteinbrand. Bei diesen unglücklichen Ereignissen sammelten die Stuckgeister um Auguste und Heinrich ihre Kräfte und sorgten mit ihrem erzeugten Lärm für die Rettung, denn die Bewohner wurden geweckt. Noch bedrohlicher war die Überschwemmung im März 1925: Krodo langweilte sich und staute unterhalb des Radauer Wasserfalls die Wassermassen der Schneeschmelze und dauerhafter Regen über eine Woche. Am ersten Tag mit Sonnenschein ließ er seinen provisorischen Damm mit einem Mal brechen. Die Stadt war sofort überflutet. Durch das beherzte Eingreifen von Charles Familie konnte auch diese Gefahr gebannt werden und alle Häuser der Stadt konnten gerettet werden.

Trotz dieser Ereignisse verlebte Charles eine zufriedene, glückliche Geisterkindheit, die hingegen, plötzlich und unvermittelt 1960 endete. Folgendes passierte in diesem Jahr.

Krodo, der gutmütig vom Stadtwappen herunterschaute, war alles andere als das. Krodo grollte der den Geistern wegen der geglückten Rettung und er war auf Rache aus. Und vor allem Augustes Familie, die den Wiederstand 1925 maßgeblich organisierte und koordinierte, wollte er schädigen. Nach dem Großen Weltkrieg der Menschen waren ihre Häuser und deren Erhalt nicht vorrangig, so dass sich einiges an Verschleiß einstellte. So auch leider in der Villa Breitenbach. Verrostete Wasserleitungen boten für Krodos bösartigen Wassergeister Mephisto und Rudolfo hervorragende Möglichkeiten, Leckstellen dem Wasserfürsten Krodo zu melden und die Schwachstellen der städtischen Häuser zu denunzieren. Seine flüchtige Gestalt ermöglichte es Rudolfo, Steigleitungen unauffällig zu kontrollieren. An diesem Tag fiel sein Augenmerk auf die Villa Breitenbach. Jedoch entdeckte Charles Rudolfo, als er gerade zum Mittagsschlaf die Rohre nutzen wollte, sich schnell ins Dachgeschoss zu bewegen. Rudolfo grüßte ihn schleimig, hinterhältig mit einem kurzen Nicken, die Stuckfamilie war einerseits alarmiert, andererseits beunruhigt, ob der Tatsache, was Rudolfo hier zu suchen hatte.

Rudolfo fand das, was Krodo wichtig war: ein Rohr war dermaßen angerostet, das nur noch wenig fehlte, es zum Platzen zu bringen. Im Winter 1959/60 ergab sich die Möglichkeit. Der Kälte des Winters überzog die Stadt und das Land. Die Leitung platzte in der leerstehenden Dienstbotenkammer und keiner merkte etwas, denn sofort fror das Wasser. Erst die ersten wärmenden Sonnenstrahlen des Frühlings ließen die Vereisung schmelzen und das Wasser sickerte durch die Decken und an den Wänden langsam nach unten. Jede Hilfe kam zu spät.

Die Familie der Villa Breitenbach musste eine Entscheidung treffen und entschlossen sich, den Stuck herauszureißen, alles Plan zu machen und alle alten Bauelemente zu entfernen. Sofort begannen die Arbeiten, so dass Charles lediglich die Rufe seiner Familie hörte: Rette sich wer kann!

Charles floh in die Rosenstuckrosette, da war ein altes, stilgelegtes Gasrohr, da konnte er sich in verstecken. Leider verstärkte das Rohr das hämische Lachen und Feixen des Krodos. Irgendwann, gefühlt unendlich viel später, wurde Krodos Lachen und Feiern leiser und eine beängstigte Ruhe stellte sich ein und ließ Charles allein zurück. Charles ängstigte sich um seine Familie und Freunde sowie sein Leben zu verlieren.

Charles schlief erschöpft ein – 60 Jahre später erwachte er, denn an der Rosenrosette ruckelte es, aber anders als ehedem, ging der Bauarbeiter vorsichtig, fast liebevoll mit seinem Zufluchtsort um. Er wollte die Rosette retten.

Könne es denn wahr sein? Er lauschte Gesprächen, deren Inhalt er nicht glauben konnte, denn die neuen Besitzer des Haues wollten alle Räume mit Stuck versehen und in seinem Raum sollten kleine Drachen den Übergang von Wand und Decke zieren. Einige Wochen vergingen, und es ging voran: Der Drachenstuck war fast angebracht, vor dem endgültigen Beenden der Arbeiten traute er sich, in den Drachenstuck einzudringen und schnappte sich den erst besten Drachen, Charles konnte sein Glück kaum fassen. So konnte er den Kampf gegen Krodo aufnehmen, nämlich als Charles der Stuckdrache. Hoffentlich hatte seine Familie ähnlich viel Glück wie er.