Buchstaben im Kopf
Unglaub
Das geflügelte Rad
Undeutlich nur blieb der kleine Elefant in Erinnerung. Freilich war es ein hohes, buckliges Haus mit Weiterungen, Anbauten und Dachhauben, aber es schien nicht recht zusammenzugehören, doch wenn der Zug einfährt, sah man noch nicht viel mehr als einen grauen Schatten, der sich über die offenen Bahnsteige legte. Hier ging es nicht weiter. Der Bau verlegte die Strecke. Ein Kopfbahnhof, aber eine kleine Stadt. Das Ende einer Linie, die schon alt schien, verlassene Weichenpaare, vereinsamte Viadukte, langsam rostende Signalbrücken und schon blind gewordene Fensterscheiben auf erhabenen Stellwerksposten deuteten es an, waren die Vorbereitung für ein Ende. Sanft setzten die Bremsen ein, kein Ruck, der Zug war kurz, nur mit zwei Wagen, kaum besetzt. Keine Ansage weckte auf. Sanft kroch die Luft aus den Schläuchen, wenn sich eine Tür öffnete. Man konnte bequem hinausgehen, es wartete kein Hinabsteigen in die richtige Welt. Die Fahrwelt, auch wenn sie auslief, schien sich noch eine Weile zu verlängern hin zur groß gebliebenen Flügeltür der Bahnhofshalle. Weiß mit keinen Quadratscheiben gab sie den Blick frei auf die breite Innentreppe. Ein Aufstieg in die Stadt, die doch klein zu sein schien.
Niemand sonst war ausgestiegen, leer schwang die Pendeltür zurück, fast bis zum Anschlag, da sie niemand ergriff. Weite, Leere, tat sich auf unter der hochgewölbten Decke und dem bunten Glasfenster, das eine Stadt in grünen Bergen vorstellte, nicht so alt wie die Halle, etwas abstrakt nachgestellt in bunter gewordenen Nachkriegszeiten. Ausgeräumt die Tische und Geländer vor den Schaltern! Die kleinen Fenster mit den Sprechgittern waren lange schon hinter die weißen Spanwände entzogen, nur gestörtes Muster im Steinfußbodens deutete auf sie hin, Spuren, die sich nicht verwischen ließen. Gestorben der Zugang zur Gaststätte, den Wartesälen der unterschiedlichen Klassen. Man konnte sie nur vermuten hinter groben Plakatwänden: Die längst abgetretene Landesministerin forderte mehr Courage vor der Gewalt. Hier aber war man allein auf sich gestellt. Ein kleiner Shop am Nebeneingang, das wußte man, gehörte nicht dazu, war nicht zuständig, wollte nicht einmal Geld wechseln für den Automaten. Allein stand er in der Halle, fast – denn neben ihm überdauerte noch ein Fotoautomat mit Kabine. Schnellfotos auf dem Sitz hinter einem bedeutsam faltigen Vorhang. Man brauchte ihn für eilige Passbilder oder Fotos für die Monatskarte. Jetzt verlangte wohl kaum jemand danach. Aber er wehrte sich gegen sein Vergessen. Nachts leuchtete die Kabine kräftig rot in der sonst dunklen Halle, denn der Sitz sandte das Licht aus, breitete nach allen Seiten seine Strahlen hin, zog sich über den Boden, auch wenn niemand kam, keiner ein eiliges Bild brauchte. Aber hier konnte sich auch niemand verbergen, kein Liebespaar in eine Ecke sich drücken, kein Landstreicher seine Tüten ungesehen sortieren, keine Schüler sich herumtreiben bis der Zug fuhr. Hier war es still, aber nicht ruhig konnte man werden.
Den Ort sollte man schnell verlassen, die großen Glastüren zum Vorplatz stemmen und sich an den scharfen Kanten mit den Ärmeln reiben. Aber wenig Schutz bot das knappe Vordach. Niedrig stand es über dem Eingang, verengte nur den Blick. Erst wenn man weiter heraustrat, sah man das Portal, die Stadtseite mit dem hochgeschwungenen Giebel. Er musste ein Ende haben. Man sah ihn nur als dunklen Schatten auf dem Dach. Zog eine helle Wolke dahinter vorbei, zeichneten sich Linien ab und ergaben ein geflügeltes Rad. Fasste man es genauer in den Blick, sah man tatsächlich ein Speichenrad wie von einem alten Fahrwerk gelöst und aufgestellt in luftiger Höhe. Aus der Nabe wuchsen zwei Flügel, nicht abstrakte, sondern gefiederte, das konnte man auch von unten sehen. Es war die Bahnhofsspitze, das einst goldene Zeichen der Reichsbahn. Seit Kaisers Zeiten war es nicht mehr geputzt, es war dunkel geworden, an den Rand gerückt, vergessen von eiligen Passanten, deren Blick nicht mehr nach oben gelenkt wurde. Nur wer wartete, langweilig in die Luft sah, konnte es als rätselhaften Schemen erkennen. Und es fiel auf, dass der Giebelschwung hinab noch ein breites Dach anfügte. Darunter lagen hohe Räume mit einer runden Ausbuchtung. Eine Konzertmuschel wie für eine Kurkapelle zeichnete sich ab. Vielleicht war hier der große Festsaal des Bahnhofrestaurant? Erste Klasse sicher, für hochgestellte Kurgäste, die auf die Verbindung zu den Großstädten warteten. Sie waren vielleicht auf dem Heimweg aus der Sommerfrische, oder es kamen Bürodiener und Kuriere mit glänzenden Aktentaschen, die wichtige Unterschriften für große Verträge bei ihren Chefs und Direktoren einholten, die an Wochenenden ihre Familie auf dem Land besuchten. Aber das war wohl schon lange vorbei.
Der untere Ballsaal war dunkel, der kleine Nebeneingang zur Muschel schon lange nicht mehr benutzt. Oben, aus den großen, geschwungenen Fenstern – dort müsste einmal eine Galerie gewesen sein – glimmte es. Es war nicht deutlich, zwar sanft aber bedrohlich. Wärme schien dieses Licht nicht zu verbreiten. Manchmal wechselte die Lichtstärke, aber nicht sehr. Wenn man auf dem Vorplatz einige Schritte zur Seite machte und die Position verschob, wechselte die Farbe zu blauem Dämmern oder zu absinthfarbenem Grün.
Hier waren andere Gäste als früher. Schatten zeigte an, dass es sich um große Schränke handelte oder metallene Kästen. Diese Gäste flackerten mit ihren Kontroll-Lampen und verbreiteten ein leises Brummen, das durchs Haus ging, eine Gegenwart andeutend, die man als Ankommen des Neuen nur vage wahrnahm: als Unruhe in einem leeren Haus.
Gott segne dieses Haus
Und alle, die da gehen ein und aus.
Das wusste man von den goldenen Balkensprüchen der Stadthäuser. Sollte man sie ignorieren?
Verlassene Bahnhöfe suchen sich etwas, den Ersatz für vergangene Feste, berühmte Gäste und Passagiere, leichtsinnige Bekanntschaften, vage Vergnügungen, pathetische Empfänge, sanften Verabschiedungen, doch auch herrische Gesten von Droschkenkutschern und geduldiges Warten auf die Anschlusszüge. Manchmal reichte die Zeit für eine Rasur beim Bahnhofsfriseur im kleinen Seitenflügel, manchmal nur zum Stutzen des Schnurrbarts. Gab es Verspätungen, konnte der Bahnhofskellner neben dem Glas Bier auch die Zeitung am Stock reichen. Einige Gerichte waren stets auf der Karte: Gulaschsuppe, Szegediner Gulasch, Innereien wie Nieren oder Lungenhaché, natürlich auch Wiener Schnitzel mit Kartoffelsalat oder gebratene Leber mit Apfelscheiben und Kartoffelbrei. Das konnte man auch ohne einen Blick in die Speisenaufstellung bestellen. Das gab es immer bis nach dem letzten Abendzug auch die Gäste sich vertrollten, die Tische abgeräumt wurden und die Lichter gelöscht. Dann war es still in der Stadt.
Jetzt aber war es schon tagsüber still, der Bahnhof war leer, wie abgestellt, nur die Maschinen summten und glimmten auf der Galerie. Die neue Zeit.