Buchstaben im Kopf
Johannes Hund
Das Gewebe der Zeit
Der Kaffee war kalt und bitter. Josh zwang ihn die Kehle hinab. Besser als nichts. Er starrte auf die Pinnwand vor ihm. Mittlerweile war sie auf eine Größe von 5 mal 5 Metern angewachsen und komplett übersät von Notizen, Kassenzetteln, Fotos und diversen, sehr viel obskureren Dokumenten. All dies war mit roten Wollfäden und Reißnägeln verbunden, auch mit den dutzend anderen Pinnwänden gleicher Größe im Raum. Josh ließ den Blick über das Spinnennetz aus Fäden gleiten, ohne eines der Dokumente genauer zu betrachten. Hier war die Arbeit der vergangenen Wochen. Und doch gab es keinen Fortschritt, war alles umsonst. Ein flaues Gefühl bemächtigte sich seines Magens, er konnte nicht sagen, ob es vom Kaffee oder dem Scheitern kam. Auf dem gekachelten Flur näherten sich Schritte, beschwingt, geradezu fröhlich. Das genaue Gegenteil von Joshs Stimmung. Er wusste, wer da durch den Flur kam. Alex Mayfield war einer der beliebtesten Kollegen in der Abteilung Z, er hatte immer gute Laune und meistens einen lockeren Spruch auf den Lippen. Ohne anzuklopfen flog die Doppeltür auf und Alex betrat den Raum. »Na, irgendwelche Fortschritte?«, fragte Alex grinsend. »Nichts, das weißt du doch! Es funktioniert einfach nicht, der Grad der Vernetzung ist zu hoch und zu komplex! Das wird nie was!« »Ach was, Josh, du machst dir wie immer zu viele Gedanken.« Alex ließ sich auf der Schreibtischkante nieder und griff nach der Kaffeetasse. »Außerdem scheint es neue Entwicklungen zu geben, die Chefs haben zumindest ein Meeting für 15 Uhr einberufen.« »Warum sagt mir, keiner was davon?« »Tu ich doch gerade. Ist ja nicht so, als ob du Besseres zu tun hättest. Wää, was ist das denn?!«, stieß Alex aus und starrte in die Tasse, aus der er gerade einen Schluck genommen hatte. »Kaffee.« »Das«, sagte Alex jedes Wort betonend, »ist ganz sicher kein Kaffee. Das ist eine Zumutung. Es wird echt Zeit, dass du hier raus kommst.« Josh zuckte mit den Schultern. Nicht, dass er den Kaffee mochte, doch seine Ansprüche waren geringer als die von Alex. »Komm«, Alex stand auf und wandte sich zur Tür, »bis zum Meeting wirst du eh nicht weiter kommen, also kannst du genauso gut aus deinem Hades emporsteigen und dir richtige Nahrung zuführen.« Scheinbar widerwillig griff Josh nach seiner Jacke. Eigentlich war es ihm ganz recht, Abstand von seiner Arbeit und den Pinnwänden zu bekommen. Sie verfolgten ihn schon in seine Träume und drohten, ihn dort unter sich zu begraben und in einen Kokon aus roten Wollfäden zu verwickeln. »Wo gehen wir hin?«, fragte Josh, während er die Doppeltür hinter sich abschloss und damit die Pinnwände in ihren Käfig verbannte. »Natürlich ins ‚Marty´s‘, die haben einfach das beste Essen in der ganzen Gegend! Und außerdem treffen wir da sicherlich keine Kollegen«, fügte Alex grinsend hinzu. Josh war immer wieder erstaunt, was Alex alles wusste. So offensichtlich auch, dass Josh es vorzog, seine Pausen abseits der Arbeit und der Kollegen zu verbringen. »Gut, gehen wir!« Und sie machten sich auf zum Ausgang, durch die endlosen, hallenden Gänge der Abteilung Z.
»Was wollen wohl die Chefs von uns?«, fragte Josh. »Werden wir schon sehen. Wäre es etwas Dringliches, dann hätten sie uns sofort antreten lassen«, antwortete Alex zwischen zwei Bissen seines Filets. Er hatte mit Gabel und Messer auf seinem Teller Gemüse, Soße und Fleisch säuberlich getrennt und schaffte es auch beim Essen, diese unsichtbaren Grenzen nicht zu verletzen. »Ich glaube schon, dass es was Wichtiges ist«, sagte Josh, der noch keinen einzigen Bissen seiner Nudeln genommen hatte. »Wahrscheinlich hat es mit meinem Objekt zu tun.« »Du meinst den alten Typen, diesen Bartholomew?« Josh blickte sich hektisch um. »Bis du wahnsinnig? Du weißt doch, dass wir nicht außerhalb der Abteilung über das Projekt sprechen dürfen!« »Beruhig´ dich, wir sind hier weit und breit die Einzigen, uns hört schon keiner. Du tust ja gerade so, als würdest du wer weiß wen beobachten.« »Ich beobachte niemand, dass macht die Observationsgruppe. Ich ziehe Schlüsse, finde Verbindungen.« »Ja, ja, ich weiß, alles total spannend!« »Ein Regulator wie du versteht das natürlich nicht«, Josh beugte sich noch weiter vor, »ich rekonstruiere ein ganzes Leben für den Zeitraum von einer Woche und nicht nur das, ich muss auch alle, die in diesem Zeitraum mit dem Objekt Kontakt hatten, mit in das Netz einbeziehen. Das sind mittlerweile über 500 Personen.« »Du machst Witze, oder?« »Nein, aber die meisten davon spielen für meine Betrachtungen keine Rolle, die Interaktionen waren vollkommen irrelevant. Ob sie stattfinden oder nicht hat keinen Einfluss auf den Verlauf der Geschehnisse.« »Du meinst auf den Verlauf der Zeit, auf die Zukunft.« »Wenn du so willst, ja. Wir Analysten betrachten die Zeit als Abfolge von Ereignissen oder Geschehnissen einer Person, die mit den Ereignissen anderer Personen verflochten sind. Jede Person hat praktisch ihren eigenen Zeitfaden. Ereignisse, die Einfluss auf mehrere Personen haben, sind wie Knoten, in denen die Zeitfäden der einzelnen Personen zusammenkommen.« »Das du immer so personenbezogen bist.« Alex hatte seinen Teller leer gegessen und richtete seine gesamte Konzentration auf das Gespräch. »Das ist doch eigentlich ganz untypisch für dich.« »So ist es halt«, versuchte Josh dem Thema auszuweichen. »Außer mir hast du mit niemandem aus der Abteilung Kontakt in deiner Freizeit, oder? Hast du überhaupt soziale Kontakte oder igelst du dich nach der Arbeit zu Hause ein?« »Am liebsten bleibe ich nach der Arbeit allein. Ich hab auch schon darüber nachgedacht, früher hatte ich mehr Bekannte und Freunde. Aber seit ich als Analyst arbeite, sind die Kontakte irgendwie eingeschlafen. Ich glaube, wenn man jeden Tag in das Leben einer anderen Person eintaucht, versucht, ihre Tagesabläufe komplett zu rekonstruieren, dann braucht man in seiner Freizeit Abstand von Menschen. Man fängt an, auch seine Freunde als…« Josh unterbrach sich. Der Kellner trat an den Tisch, um das leere Geschirr abzuräumen. Mit säuerlicher Miene quittierte er den kaum angerührten Teller von Josh, ließ sich aber nicht zu einer Bemerkung herab. Als der Kellner auf die Küche zusteuerte, begann Josh den Satz von Neuem. »Also, man fängt an, auch seine Freunde als Endpunkt einer individuellen Zeitleiste zu betrachten, als Ansammlung von Ereignissen und Interaktionen. Der Kellner eben zum Beispiel. Wäre er heute morgen drei Minuten später aufgestanden, hätte er vielleicht seinen Bus verpasst. Dadurch hätte er sich nicht wie jeden Mittwoch während der Busfahrt neben die alte Dame gesetzt und mit ihr geredet, ihr einziges richtiges Gespräch in der ganzen Woche. Ohne dieses Gespräch würde die Dame noch mehr in ihrer Einsamkeit versinken, als sie es ohnehin schon tut und würde gar nicht wahrnehmen, dass der pensionierte Polizist, der neu in die Nachbarwohnung gezogen ist, ein Auge auf sie geworfen hat. So könnte es sein oder auch ganz anders. Aber alles ist mit allem verwoben. Und unweigerlich beginnt man als Analyst, die Leute nur noch in dieser Hinsicht zu betrachten.« »Das hört sich nicht unbedingt nach Spaß an«, sagte Alex langsam, von Joshs Wortschwall überwältigt. »Ich dachte immer, ein Analyst wäre einfach ein besserer Rechercheur. Du solltest unbedingt mal raus aus diesem Gedankengebäude. Du arbeitest zu viel. Vor allem dank dem aktuellen Projekt, mit diesem Bartholomew.« »Wenn ich Glück habe, dann geben unsere Bosse das Ende des Projektes heute ja bekannt. Was sollten sie sonst machen, wir haben die Rekonstruktion nur zu einem Bruchteil abgeschlossen.« »Sehen wir ja gleich, wir müssen nämlich los. Zahlen bitte!«
Als sie die Halle betraten, war diese schon gut gefüllt. Vorne fanden sich keine freien Plätze mehr, was Josh ganz recht war, und so setzten sie sich in eine der hinteren Reihen. »Mit ein bisschen Glück können wir direkt nach dem Meeting Feierabend machen«, wandte sich Alex an Josh. »Ja, das wäre angenehm, aber irgendwie bereitet mir dieses Meeting Bauchschmerzen. Ich weiß nicht warum.« »Du bist einfach zu lange in deinem Keller gewesen und so viele Menschen um dich nicht mehr gewohnt«, beschied Alex. Josh wollte etwas erwidern, verstummte aber, als vorne auf dem Podium Aktivität einsetzte. Fünf Herren in Anzügen und eine Dame im Businesskostüm betraten das Podium und nahmen Platz. Die Führungsriege der Abteilung Z, mutmaßte Josh, er kannte nur einen von ihnen. Die Frau glaubte er schon einmal gesehen zu haben, erinnerte sich aber nicht mehr wo. In der Halle war es schlagartig still geworden. Einer der Männer trat an das Rednerpult. »Sehr geehrte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Abteilung Z, Sie wurden heute hier her gebeten, da es bedeutende Fortschritte und darauf fußende Entscheidungen bezüglich des aktuellen Projektes gibt, die ich Ihnen nun mitteilen werde. Wie Ihnen bekannt ist, handelt es sich bei unserem aktuellen Projekt CHRONOS um das anspruchsvollste, das seit Bestehen der Abteilung Z durchgeführt wurde. Nach der Auswahlphase haben wir die Evaluationsphase nun erfolgreich abgeschlossen. Das Subjekt, Herr B., wurde von unseren Observationsteams unmittelbar nach der Bekanntgabe des Lotteriegewinns ständig und umfänglich beschattet. Alle Informationen wurden in Echtzeit an die Analysten weitergeleitet. Diesen ist es gelungen, die gesamte Zeitspanne im Leben von Herrn B. seit Bekanntgabe des Gewinnes zu Rekonstruieren und auf etwaige problematische Verknüpfungen mit den Lebenswegen anderer Personen zu prüfen. Derartige Verknüpfungen konnten nicht festgestellt werden.« »Was?«, flüsterte Josh ungläubig, »wir haben doch noch gar nicht alles geprüft. Außerdem habe ich in allen Zwischenberichten darauf hingewiesen, dass Bartholomew zu komplex zum Analysieren ist.« »Die werden schon ihre Gründe haben«, flüsterte Alex zurück, »und sei es eine Anordnung von oben.« »Deshalb«, fuhr vorne der Redner fort, »haben wir in Absprache mit den zuständigen Stellen entschieden, umgehend die nächste Phase zu beginnen. In diesem Moment bereiten sich die Temponauten vor, um in Kürze die Reise in die Vergangenheit anzutreten und anstelle von Herrn B. den Lotteriejackpot zu gewinnen. Damit haben wir eine wirtschaftliche Nutzung der Zeitreisetechnik erstmals nachgewiesen. Unser Dank gilt Ihnen allen, die Sie dafür gesorgt haben, dass dieses Unterfangen sicher und ohne ungewollte Veränderungen der Gegenwart möglich ist. Vielen Dank!« Mit diesen Worten wandte sich der Redner ab, und verließ zusammen mit den anderen das Podium.
»Das war ja was, damit hätte ich nicht gerechnet«, brach Alex das Schweigen, als sie in Joshs Büro angekommen waren. »Das ist vollkommen fahrlässig, unverantwortlich«, stieß Josh hervor. »Ich kann verstehen, dass du nach deiner langen Arbeit sauer bist, aber nimmst du das nicht ein wenig zu ernst? Was soll schon groß passieren? Dieser Bartholomew ist doch nicht weltbewegend.« »Jeder ist weltbewegend, alle Zeitfäden sind irgendwie miteinander verknüpft«, erwiderte Josh, während er auf dem Schreibtisch herumwühlte. »Was suchst du?«, fragte Alex und beugte sich nach unten. Er hob ein ausgedrucktes Foto auf, das Josh vom Tisch gestoßen hatte. »Den kenne ich«, sagte Alex erstaunt und hielt Josh das Bild hin. »Ich wäre gestern fast vor einen Bus gelaufen und dieser Mann hat mich zurück gerissen.« Josh warf einen beiläufigen Blick auf das Bild und wurde bleich. »Das ist Bartholomew«, sagte er. Alex schaute ungläubig auf das Foto. »Das ist Bartholomew?! Dann hätte doch die Observationsabteilung…« Josh ließ Alex nicht ausreden, er war schon bei der Tür und stürzte auf den Flur. Nach rechts, tiefer ins Labyrinth der Abteilung Z. Hinunter zum Apparat, zur Zeitmaschine. Josh sprang die Treppe hinunter, rutschte fast aus, fing sich, lief weiter. Nur einmal war er hier unten gewesen, aber den Weg hatte er sich, warum auch immer, gemerkt. Er war kurz vor der großen Doppeltür, die den höchsten Sicherheitsbereich abtrennte, da erfasste ihn eine Welle. Er schien in der Luft zu stehen, nicht weiterzukommen, weder vor noch zurück. Dann warf sich der Boden in Falten, die Wände wellten sich. Der gesamte Raum verlor alle Konturen und verschwamm, Joshs Körper schien zu zerfließen. Schwärze.
Josh nickte dem Pförtner der Abteilung Z kurz zu und betrat den gekachelten Gang. Vor dem Aushang hatte sich eine kleine Menschentraube versammelt. Eigentlich wollte Josh weitergehen, aber er blieb doch stehen und warf einen Blick auf das Bild mit Trauerflor. „Alexander Mayfield 2000 – 2036“ stand unter dem Foto. Josh musste schlucken. Alex hatte keine Chance gehabt, der Bus hatte ihn mittig erfasst. Es hieß, er wäre sofort tot gewesen. Josh fühlte sich noch einsamer als sonst. Es half auch nichts, dass seine Mitarbeit am Projekt CHRONOS ein Erfolg gewesen war. Josh lief ein Schauer über den Rücken, er hatte das Gefühl, dass nichts zusammenpasste. Eine Dissonanz in einem Konzert. Das letzte Puzzleteil, das dann nicht passt. Ein Beben im Gewebe der Zeitfäden.