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Buchstaben im Kopf

zum Wettbewerb

Ira Freyaldenhoven

Das Haus meiner Tante

11. April 2024
41-60 Jahre


Ich stehe vor dem Haus meiner Tante.

Der Garten ist verwildert; die leuchtend weiße Farbe der Mauer verblichen. Man kann nur noch erahnen, wie strahlend und gepflegt hier alles einmal ausgesehen hat. Ich sehe eine Schaukel in der hinteren Ecke des Gartens, neben der großen Zeder. Dahinter ein Sandkasten mit knallroten und blauen Förmchen. Ein kaum spürbarer Windhauch bewegt die Seile der Schaukel ganz leicht hin und her.

Mir geht durch den Kopf, wie oft ich früher hierher gekommen war, als Kind, voller Vorfreude, und immer ein bisschen aufgeregt – ganz besondere Nachmittage inmitten des Alltags. Eine willkommene Abwechslung, ein Ort, wo ich willkommen war. Meistens bin ich mit meinem gelben Fahrrad gekommen, obwohl ich nur zwei Straßen weiter wohnte. „Warum gehst du die paar Schritte denn nicht?“, wurde ich stets von meiner Tante begrüßt.„Etwa mit den Füßen?“ gab ich jedes Mal mit gespieltem Entsetzen zurück. Dann lachten wir, jedes Mal. Ein Ritual. Unser Ritual. Eines von vielen. Dann wurde ich durch den langen Flur ins Esszimmer geschoben, die kräftige Hand meiner Tante im Rücken. Wie schön, wieder hier zu sein, dachte ich jedes Mal. Der Geruch Ihres Parfüms, das vertraute Knarzen der Dielen, der liebevoll gedeckte Tisch, all das war mir vertraut. „Schön, dass du uns mal wieder besuchen kommst!“, hörte ich ihre fröhliche Stimme hinter mir.

Während mein Onkel mir flüchtig vom Wohnzimmer aus zuwinkte und sich sofort wieder dem ständig laufenden Fernseher zuwandte, wurde ich zum Kaffeetisch geführt, wo das gute Porzellan und ein noch warmer Apfelkuchen auf mich warteten. Extra für mich. „Ich mache noch schnell die Sahne“, sagte meine Tante und eilte in die Küche, während ich mich in dem penibel aufgeräumten Raum umsah. Verstohlen blickte ich auf meine Hände und bemerkte entsetzt die Trauerränder unter meinen Nägeln.„Ich gehe noch mal eben zur Toilette!“ rief ich in Richtung Küche und ging zurück durch den schmalen Flur, während ich wie schon so oft die Fotos betrachtete, die dort an der Wand hingen, seit ich denken kann, von Kindern, von Enkeln, und – ganz unten rechts - auch von mir. Neben der Tür zum Badezimmer stand von je her der braune Sekretär, in dem die Gesellschaftsspiele aufbewahrt wurden. „Bring die Rommékarten mit!“, rief mir meine Tante dann auch zu, bevor ihre Worte im lauten Sirren des Mixers untergingen.

Ich ging in das kleine Badezimmer, wo es immer so frisch und sauber roch, und ich mich in den blitzblanken Kacheln spiegeln konnte, wusch mir gründlich die Hände, bürstete die Nägel, bis sie sauber waren, trocknete alles wieder ordentlich ab und setzte mich eine Weile auf den mit blauem Kunstfell bezogenen Toilettensitz. Neben der Tür hing eine blaue Kordel, an deren Ende ein dicker Bommel hing. Ich stand wieder auf und zog daran. Licht an, Licht aus – ich war jedes Mal aufs Neue fasziniert, so oft ich auch dort war.

Dann ging ich wieder in den Flur, nahm das abgegriffene braune Ledermäppchen mit den Karten aus dem oberen Fach des Sekretärs und setzte mich wieder an den Tisch, vorsichtig, um die weiße Tischdecke nicht zu zerknautschen. „Na, gutes Kind!“ lächelte meine Tante mich an und stellte den Sahnetopf vor mir ab. „Wie war es denn heute in der Schule?“ Ihre grünen Augen, die so ganz anders waren als die meiner Mutter, lächelten auch. Ich erzählte ihr dann ein bisschen von meinen Erlebnissen, manches, was tatsächlich passiert war und auch schon einmal etwas Ausgedachtes, wenn der Schultag zu langweilig gewesen war. Während ich so redete, machte sich eine wohltuende Wärme in mir breit machte. Gutes Kind – niemand sonst nannte mich so; die Worte streichelten mein Herz.

Dann spielten wir Rommé ; manchmal auch Scrabble – nie etwas Anderes, denn das waren die einzigen beiden Spiele, die meine Tante besaß, aber ich hätte auch gar nichts Anderes spielen wollen. Das waren unsere Spiele. Ich erinnere mich, wie schwierig es für meine kleinen Hände war, die vielen Karten fest zu halten. Hat sie mich eigentlich ab und zu gewinnen lassen, damit ich nicht die Lust verlor?, frage ich mich jetzt. Ich weiß es nicht, aber wahrscheinlich war es so. Denn so war sie zu mir.

Manchmal an diesen Nachmittagen haben wir Ausflüge gemacht, mit dem grauen VW-Käfer, der blank poliert und liebevoll gepflegt von meinem Onkel in der Garage stand. Ich habe das Rasseln des Motors noch heute im Ohr, spüre, wie es mir durch den Magen fährt, genau so wie ich den Geruch der roten Kunstledersitze noch in der Nase habe und das sanfte Federn bei jeder Unebenheit noch unter mir spüre. Kleine Abenteuer waren diese Ausflüge - ich vorne neben meiner Tante auf dem Beifahrersitz, den Blick auf die silberne Christopherusplakette am Armaturenbrett geheftet, wo sich im Handschuhfach die leckeren Bonbons befanden, von denen ich mir immer eins nehmen durfte. Ich liebte am meisten die roten, leicht säuerlichen und behielt sie stets so lange es ging im Mund.

„Heute fahren wir mal in die Stadt und machen einen schönen Einkaufsbummel!“, sagte meine Tante einmal. Wir liefen stundenlang im Strom der Menschenmengen hin und her, von einem Geschäft ins andere; mir wurde ein bisschen schwindelig davon. „Ich möchte dir gerne etwas kaufen, gutes Kind!“ sagte sie dann zu mir. „Was hättest du gerne?“ Angestrengt dachte ich nach, doch mir fiel nichts ein, was ich hätte brauchen können. Ich sah die Enttäuschung in ihrem Gesicht. „Also, wenn meine Tante mich das gefragt hätte, wären mir viele Dinge eingefallen!“ forderte sie mich ein zweites Mal auf. Aber ich wollte nichts. Es war mir genug, hier zu sein, mit meiner Tante alleine in der großen Stadt, wo ich das Gefühl hatte, etwas ganz Besonderes zu sein.

Ich stehe vor dem Haus meiner Tante und sehe eine junge Frau, die einen Korb voller Wäsche aufhängt. Ob sie weiß, wer einmal hier gelebt hat? Ob sie es zu schätzen weiß, dass dieses Haus nach dem Krieg von meiner Tante und meinem Onkel mit eigenen Händen gebaut worden war, die Ziegel selber in Formen gepresst und geschleppt, das Holz für die Fensterläden selbst angebracht und später dann noch einmal ausgewechselt, weil es sich durch zu viel Feuchtigkeit verzogen hatte? Holz war schlecht zu bekommen in der Zeit, das erzählte mir meine Tante einmal, und dass es schwer es war, überhaupt bauen zu dürfen. Entbehrungsreiche Zeiten. Sie sprach nicht oft darüber.

Und trotzdem fiel es ihr irgendwann doch ganz leicht, dieses Haus wieder aufzugeben, die viele Arbeit war ihr zu schwer geworden, und ohne meinen Onkel wollte sie dort nicht mehr sein, so ganz allein mit all den Erinnerungen, guten wie schweren. Mich hat es traurig gemacht, als sie mir vom Verkauf erzählte: schon wieder war ein Stück meiner Kindheit unaufhaltsam vorbei.

Ich stehe vor dem Haus meiner Tante und erinnere mich an später, als ich längst erwachsen war und weggezogen zum Studium. Sie hat mich oft dort besucht, meine Tante, unsere Rollen haben sich vertauscht und doch auch irgendwie nicht. Ich durfte wieder das kleine Mädchen sein. Das gute Kind, das erst mal zum Frühstück ins Café am Bahnhof eingeladen wurde. Dann haben wir die Stadt erkundet und immer wieder etwas Neues und Spannendes zusammen entdeckt. Sie konnte sich für so vieles begeistern, war immer neugierig und interessiert. Ich habe ihr ein Stück meiner Welt gezeigt, und so blieben wir verbunden.

„Das war wieder ein richtig schöner Tag mit dir!“, sagte meine Tante jedes Mal, wenn ich sie wieder zurück zu ihrem Zug brachte. „Das machen wir bald wieder!“ Und ich fühlte mich jedes Mal ein Stück weniger verloren in der großen Stadt. Und freute mich schon aufs nächste Mal.

Ich stehe vor dem Haus meiner Tante und frage mich, wo sie hin sind, diese vielen Stunden Gemeinsamkeit, ihr herzliches Lachen, das mir so vertraut war. Das erste Foto von uns beiden kommt mir wieder in den Sinn: Ich lerne gerade laufen, die Augen weit aufgerissen voller Konzentration und Überraschung, auf den eigenen Füßen zu stehen. Um den Hals trage ich ein kleines goldenes Herz, ein Geschenk zu meiner Geburt von ihr, die auf dem Bild neben mir hockt im weißen Sommerkleid. Sie streckt ihren Arm aus und hält meine Hand, ganz fest. Ich sehe in ihrem Gesicht eine große Freude und die Ermunterung, so als würde sie sagen: „Du schaffst das! Ganz sicher.“

So war sie, meine Tante; immer voller Zuversicht und immer für alle da. Trotz vieler Katastrophen und Verluste, vieler Schmerzen und Entbehrungen – sie war immer der Mensch mit dem durchgedrückten Rückgrat und einem festen Griff unter so vielen Armen. Mit einem Taschentuch in der einen, um Kindertränen zu trocknen, einem Bonbon in der anderen Hand und einem Busen, an den sie jeden drückte, den sie gern hatte. Und sie hatte viele Menschen gern.

„Pass immer gut auf dich auf!“, steht auf allen Ansichtskarte und Briefen, die sie mir jemals geschickt hat. „Pass immer gut auf dich auf!“ war stets das Letzte, was sie zur Verabschiedung sagte, wenn wir telefonierten oder uns trafen.

Jetzt stehe ich da, ganz allein, vor dem Haus meiner Tante; dabei ist es schon so lange nicht mehr ihr Haus. Ich würde gerne noch einmal klingeln und die Zeit zurück holen, dort stehen, ihre Schritte näher kommen hören und warten, bis sie die Tür öffnet, sie in den Arm nehmen, um ihr zu sagen, wie schön meine Kindheit war, weil es sie für mich gab. Ich würde ihr gerne sagen, wie sehr ich sie vermisse. Ich würde gerne Danke sagen und noch einmal ihr Lachen hören. Doch ich bleibe vor dem Tor, das für mich verschlossen ist.

Später gehe ich zu ihrem Grab, und das Atmen fällt mir schwer. Wie kann es sein, dass sie nun wirklich nicht mehr da ist?

Ich stehe hier, ganz allein, berühre die Kette mit dem goldenen Herzen an meinem Hals und erinnere mich an so vieles Gute.

Ich lege eine Rose auf die gefrorene Erde und sage „Auf Wiedersehen, Tante. Mach´s gut, bis irgendwann. Und pass immer gut auf dich auf!“

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