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Buchstaben im Kopf

zum Wettbewerb

Christian Reichel

Das innere Spiel

16. Mai 2024
41-60 Jahre

Das Wetter heute ist schön, angenehm warm und ein paar Wolken ziehen langsam am Himmel vorbei.

An diesem spätsommerlichen Samstagnachmittag gegen 16 Uhr spiele ich mit meinem Partner auf unserer malerischen Tennisanlage am Stadtpark auf Platz 2. Es steht 5:4 für uns und 30:30 im dritten und damit entscheidenden Satz unseres Doppels. Der letzte Punkt ging durch meinen Aufschlagfehler an unsere Gegner. Es ist der letzte Spieltag in der Bezirksklasse und uns reicht ein Unentschieden, um Meister zu werden. Also drei Siege aus vier Einzeln und zwei Doppeln. Ich stehe nun mit meinem Partner in der letzten Partie auf dem Platz. Unsere Mannschaft hat bisher zwei Einzel gewonnen und die beiden anderen verloren. Auch das erste Doppel konnten meine Mannschaftskameraden nicht gewinnen, es hatte parallel zu unserem auf dem Nebenplatz begonnen und wir haben das Ende mitbekommen. Wir müssen also dieses Doppel für uns entscheiden, um die Meisterschaft zu gewinnen. Weil ich mein Einzel gegen einen eigentlich schlagbaren Gegner verloren habe, bin ich nicht gut drauf. Natürlich weiß ich nach der Niederlage schon, woran es gelegen hat, denn hinterher ist man immer schlauer. Aber dadurch, dass ich im Einzel nicht gepunktet habe, bin ich jetzt im Doppel nicht so positiv und locker, wie ich es wahrscheinlich nach einem Sieg wäre. 

Jedes Mal, wenn du denkst, jetzt darfst du keinen Doppelfehler machen, wird der Arm schwer und das Gedankenkarussell dreht sich schneller. Der Aufschlag, den du tausendmal geübt hast, wird noch schwieriger. Ich glaube, das ist auf jedem Niveau gleich. Ich erinnere mich an eine Tennisübertragung im Fernsehen 1985. Der Tennisprofi Miloslav Mécir spielte im Finale des damaligen World Team Cup in Deutschland zeitweise nur noch Aufschläge von unten gegen Jimmy Connors. Mécir war entnervt. Unter Tränen gestand das Nervenbündel, es sei “das Schlimmste, was mir je auf dem Tennisplatz passiert ist”. 

Einer der besten Spieler der Welt, der Spanier Rafael Nadal, hat sich beim Aufschlag gefühlte 30 ritualisierte Bewegungen angewöhnt, um sich abzulenken und seine negativen Gedanken loszuwerden. Das hilft offensichtlich, sieht aber albern aus. 

Mein Mitspieler muntert mich kurz auf, während ich zwei Bälle aufhebe und mich gedanklich auf meinen nächsten Aufschlag vorbereite. 

Ich spiele heute gefühlt viel schlechter als sonst. Es ist schon ein Unterschied, ob man im Training nur Bälle schlägt oder ob man in einem Punktspiel oder in einer Vereinsmeisterschaft spielt. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es manchmal schwieriger ist, gegen einen schlechteren Gegner zu spielen, weil die eigene Erwartungshaltung dann höher ist. Gegen einen viel besseren Gegner hat man anfänglich nichts zu verlieren und kann freier und ohne Druck spielen. Die einzige Schwierigkeit besteht darin, einen Vorsprung, den man sich vielleicht erarbeitet hat, bis zum Sieg zu verteidigen, ohne die Nerven zu verlieren. 

In unserem Doppel heute habe ich allerdings das Gefühl, dass ich von uns vieren am schlechtesten spiele. Den ersten Satz haben wir locker gewonnen, im zweiten haben wir etwas nachgelassen, während unsere Gegner besser wurden und ein bisschen von unseren Fehlern profitierten. Jetzt im dritten Satz war es ziemlich ausgeglichen und das letzte Aufschlagspiel konnten wir unseren Gegnern abnehmen. 

Nun schleppe ich mich auf die andere Seite unseres Feldes zum nächsten Aufschlag von der Einstandseite. Einatmen, ausatmen, mein Blick schweift ab. Unsere Teamkollegen und Gegner stehen am Rand hinter der Absperrung und schauen zu. Sie plaudern und wirken entspannt. Verständlich, denn sie haben ihre Spiele beendet und damit ihr Tagwerk getan. Dennoch spüre ich in den Blicken meiner Mannschaftskameraden die freudige Erwartung, den möglichen Doppelsieg zu sehen. Diese vielleicht nur eingebildete Erwartung lässt meine Beine schwer werden. Die Sonne steht ungünstig für mich. Beim Aufschlag schaue ich direkt hinein und sehe für einen Moment erst gleißend hell und dann schwarz mit Sternen. Der Ball landet natürlich auf unserer Seite im Netz. Ich ärgere mich. Warum mache ich das überhaupt, warum stehe ich an einem Samstagnachmittag hier auf dem Platz und stresse mich unnötig? Ich könnte doch auch irgendwo im Freibad liegen oder in der Eisdiele sitzen und gemütlich einen Nussbrecher essen oder einen Affogato schlürfen. Zu allem Überfluss liegt jetzt auch noch ein leichter Knoblauchgeruch unserer italienischen Gastronomie in der Luft. Am liebsten würde ich den Platz verlassen und mich auf die Terrasse unseres Clubhauses setzen.

Mit 35 Jahren habe ich mit dem Tennis angefangen. Ich wollte den Sport richtig verstehen und habe deshalb den Trainerschein gemacht. Teil der Ausbildung war unter anderem die technische Analyse der komplexen Aufschlagbewegung. Seitdem ich dieses Wissen habe, funktioniert mein Aufschlag nicht mehr so gut wie früher. Wahrscheinlich weiß ich zu viel und bin zu „verkopft“. Kinder lernen solche Bewegungen spielerisch und denken nicht darüber nach. 

In diesem Moment erscheinen mir nicht unsere Gegner als das Hindernis, das es zu überwinden gilt, sondern mein inneres Gedankenspiel. 

Irgendwie schaffe ich es, den Ball beim zweiten Aufschlag ins Spiel zu bringen. Es ist kein guter Aufschlag, aber Gott sei Dank kein Fehler. Der Gegner, der meinen Schlag returnieren muss, sieht die Chance zum Angriff und spielt den Ball mit der Vorhand die Linie entlang. Wie in Zeitlupe verfolge ich die Flugbahn seines aggressiv geschlagenen Balles. Er streift die Netzkante und fällt auf der Seite unserer Gegner zu Boden. Durch diesen Punktgewinn haben wir nun einen Matchball und gleichzeitig die Chance auf die Meisterschaft. 

Wenn es gut läuft, ist der nächste Punkt der letzte in diesem Match und in dieser Saison. Ein leichter Wind weht, kühlt und trocknet meine verschwitzte Haut. Ich schaue zum Himmel und sehe eine Wolke, die sich vor die Sonne geschoben hat. Ich lasse mir Zeit, um mich auf der Vorteilsseite zu positionieren und prelle den kleinen gelben Filzball in aller Ruhe ein paar Mal auf den Boden vor mir. Ein Lächeln huscht über mein Gesicht. Ich konzentriere mich auf den Ballwurf und stelle mir vor, wie der Ball perfekt im gegnerischen Feld einschlägt.