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Buchstaben im Kopf

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Barbara Rath

Das Salz in der Suppe

3. April 2024
60+ Jahre

Das Salz in der Suppe sind Erinnerungen – ohne sie wüsste ich nicht, dass meine vergangenen Jahre voller Ereignisse und Erlebnisse waren. Sie bestimmen zwar nicht mein Leben hier und jetzt, aber sie bereichern es. Meine erste Erinnerung in ganz jungen Jahren ist aber schon recht gewöhnungsbedürftig und ich habe sie vielleicht deshalb noch so gut im Gedächtnis, aber man kann sich die Geschehnisse nicht aussuchen. Ich bin hier in Bad Harzburg 1946 geboren, und da ich schon über sieben Jahrzehnte hinter mir habe, ist da schon eine stattliche Anzahl von Erinnerungen zusammengekommen.

Da ist zum Beispiel meine Sandkastenfreundin  Brigitte, ihr älterer Bruder  Helmut und dessen  Freund Wolfgang. Ich ging noch nicht zur Schule und wohnte mit meinen Eltern und Großeltern in deren Haus in Bündheim. Nebenan wohnte Brigitte mit ihrer Familie.  Die beiden Höfe der Häuser waren durch einem Zaun getrennt, doch eine kleine Pforte sorgte dafür, dass man schnell zusammen kommen konnte.

Besagter Helmut und sein Freund Wolfgang waren wie Max und Moritz: frech und voller Einfälle, mit denen niemand rechnen konnte. Eines Tages, Brigitte und ich spielten mit unseren Bällen auf ihrem Hof, ihre Großmutter und meine standen an der Pforte und tauschten mal wieder die allerneuesten Neuigkeiten aus, da kamen Max und Moritz  auf die Idee, mit  einem Beil zu spielen, das  sie auf einem Hackklotz gefunden hatten, der in einer Ecke des Hofes stand.    Wolfgang hatte plötzlich das Beil in der Hand, Helmut  seine Hand auf den Hackklotz und rief: ,,Trau dich!!!   Schon war es geschehen. Helmut schrie, und Wolfgang stand völlig entgeistert mit dem Beil in der Hand daneben.  Geistesgegenwärtig sammelte Brigittes Oma die abgetrennten Finger in  ihre Schürze in der Hoffnung, das noch was zu retten sei, und ab ging es ins Krankenhaus.  Helmut musste fortan mit zwei Fingern an seiner Hand zurechtkommen, was Ihn und Wolfgang aber nicht davon abhielt, als Max und Moritz weiterzumachen. Ich empfand das damals seltsamerweise eher als  aufregend denn als bedrohlich.

Kurz darauf wurde ich eingeschult, aber da ich ein  schüchternes Kind war, ist meine Erinnerung daran  nicht sehr intensiv, abgesehen von meinem peinlichem Weitsprung bei den Bundesjugendspielen: Einen Meter und zwanzig,  und dann fiel ich auch noch mit dem Gesicht in den Sand.  Ich blieb einfach liegen mit dem Wunsch, der Sand möge mich verschlingen.  Heute kann ich darüber nur lachen, wenn die Rede darauf kommt.

Als ich größer wurde, musste ich meiner Mutter sehr oft im Haushalt  helfen, und die schönste Erinnerung  daran war das Einlegen von Gurken. Sie war eine leidenschaftliche Anhängerin von Salzgurken, die, bevor sie in einen Steintopf gelegt und mit Salzlake übergossen wurden, natürlich erst einmal mit einer Bürste sauber geschrubbt werden mussten. Diese Aufgabe war meine.  Wenn das alles erledigt war, hätten die Gurken eigentlich drei Wochen in dieser Lake ziehen müssen, aber meine Mutter fing schon nach einer Woche das Probieren an, und ehe die Zeit um war, waren die Gurken schon gegessen und das Prozedere ging von vorne los. Dass das Schrubben der Gurken nicht unbedingt zu meiner Lieblingsbeschäftigung gehörte, muss ich wohl nicht extra betonen.

Bei diesen Arbeiten  aber erzählte meine Mutter mir immer von ihrer Freundin Liselotte, mit der sie eine innige Freundschaft  verbunden hatte. Die beiden waren zusammen eingeschult wurden und verbrachten nicht nur die Vormittage, sondern auch – wenn möglich – die Nachmittage zusammen. Sie tauschten ihre ersten Schwärmereien aus, und als sie älter wurden, waren Tanzen-Gehen, erste Liebe und Herzschmerz natürlich nur gemeinsam zu ertragen.

In den Ersten Kriegsjahren klappte ihr Zusammensein noch ganz gut, aber Liselotte zog Ende 1943 nach Wernigerode und später dann nach Stapelburg, was sich  als sehr  folgenschwer heraus stellen sollte. Ich jedenfalls konnte damals nie genug bekommen von den Erzählungen meiner Mutter, und die Erinnerung daran gehört zu den schönsten.  Der Kontakt zu Liselotte, der schon seit ihrem Umzug nicht mehr sehr häufig war, fand dann kurze Zeit später ein endgültiges Ende, als die Mauer gebaut wurde. Genau in dem Jahr fing auch meine Ausbildung an, die drei Jahre dauerte und deren Ende ich auch irgendwann herbeisehnte.

Die Erinnerung an die darauffolgende Zeit  könnte man als prickelnd, unbeschwert  und auch als etwas wehmütig bezeichnen. Ich tanzte mit Freundinnen und Freunden jedes Wochenende im Ex, im Limerick oder auch im Domizil – dem  damals angesagtesten Nachtclub hier in Bad Harzburg – die Nächte durch.  Aber genau in diese Zeit gehört meine schrecklichste  Erinnerung: Der Tod meiner Mutter.

Ich hatte sie nur zwanzig Jahre und davon gefühlte fünf Jahre im Streit . Als der erste Schmerz schwächer wurde lernte ich dann Ihn kennen und mit Ihm zog ich nach unserer Hochzeit in ein Dorf am Rande der Südheide . Da es dort noch keine Straßennamen gab, war unser Haus einfach nur die Nummer vierundzwanzig. Als nach ein paar Jahren dem Haus gegenüber einer Bushaltestelle gebaut wurde und dann auch noch ein Bus dort hielt, war die Zivilisation nicht mehr aufzuhalten.

In den darauf folgenden Jahren kam ich aber immer mal wieder nach Bad Harzburg, um  Freunde  zu treffen,  oder  nach langen Wanderungen  einen leckeren Käsekuchen im Winuwuk zu essen.  Mit unseren Kindern besuchten wir den Märchenwald, fuhren mit der Seilbahn auf den Burgberg oder spielten Minigolf.  Irgendwann, unsere Kinder wollten nicht mehr mit uns mit, begleiteten uns nur noch unser Hund auf unseren Wanderungen.

Dann endlich, nach  langen siebenunddreißig Jahren, wurde die Grenze wieder geöffnet. Uns hielt nichts mehr, wir fuhren sofort los. Ich lief zwar nicht mit Flipflops auf den Brocken, wie so manch andere, aber wir besuchten sofort Eckertal und Stapelburg.

Die  Gespräche mit meiner Mutter waren wieder allgegenwärtig. Als wir dann irgendwann nach einer Wanderung wieder einmal durch Stapelburg fuhren, entdeckten wir ein kleines Kaffee.  Fanden wir super, hielten an und nahmen gleich an einem der Tische Platz. Nachdem wir Kaffee und Kuchen bestellt hatten,  bemerkte ich eine Dame am Tisch neben uns, die mich intensiv musterte. Sie stand plötzlich auf, kam auf mich zu, und fragte ob ich eine Erika Sondermann kennen würde. Ich war wie vom Blitz getroffen und konnte nur noch an die Salzgurken meiner Mutter denken.  Ich hatte tatsächlich ihre Freundin Liselotte vor mir, die seit der Maueröffnung auf der Suche nach ihrer Freundin Erika war.  Ich ähnelte meiner Mutter sehr, und das hatte sie bewogen, mich anzusprechen. Sie war traurig, als sie erfuhr, dass ihre Freundin schon viele Jahre nicht mehr lebte.

Wir erzählten lange, und auf unserem Heimweg war ich immer noch ganz erschüttert, bis mir auffiel, das wir vor lauter Aufregung ganz vergessen hatten,  Telefonnummern oder Adressen aus zu tauschen.  Ich habe Liselotte nie wieder gesehen, so oft ich auch durch Stapelburg kam. Diese Erinnerung ist einfach nur unglaublich schicksalhaft, sodass ich sie niemals vergessen werde.  Heute lebe ich wieder in Bad Harzburg, und immer wenn ich mich mit meinen Schulfreundinnen treffe,  muss ich lächeln, wenn die Worte „Weißt du noch?!“ fallen.    

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