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Buchstaben im Kopf

zum Wettbewerb

Karin Lühr

Die Einladung (Brief an eine Freundin)

9. März 2024
60+ Jahre

Wovon ich Dir erzählen will:

Gestern sah ich sie in der Stadt – und einen Hauch Zweifel auf ihrem Gesicht. Hauptstraßenbegegnung ohne Eile: Wie schön, denn so oft reicht es nur für einen flüchtigen Gruß. In der Nähe der Buchhandlung kamen wir ins Gespräch und Maly erwähnte das neue Plakat. Es hinge dort im Schaufenster; vor einigen Tagen hätte sie es entdeckt:

Eine Einladung; ein Imperativ, der frei lässt; so etwas wie ein Komm! (Komm, trau dich …!)  - mit einem großen und festlichen „S“...

Spontan ihr Ja, so fraglos in jenem Moment. Doch schon nach einigen Tagen begannen sich leise Bedenken bei ihr einzuschleichen und ich spürte, dass sie über ihre zunehmende Unsicherheit mit mir sprechen wollte: „‘SCHREIB!WETTBEWERB‘ steht darauf. Die Infos fand ich motivierend, aber dann …“

Wir gingen einige Meter zurück, denn ich wollte den zur Teilnahme ermutigenden Aushang gerne mit eigenen Augen sehen. „Buchstaben im Kopf“ – als ich den Untertitel las, musste ich unwillkürlich lachen: Ein Synonym für alle Probleme dieser Welt?

Die federleichten Buchstaben: Noch tanzen sie ihren Reigen zur Musik des Lebens; sie verbinden sich zu Seelenworten und feiern treuen Zusammenhalt. Doch schnell hängen sie (wie unzertrennlich) in ungetümen Sätzen aneinander; alsbald verliert sich ihre Leichtigkeit. Begriffe lasten im Kopf und unversehens verfestigen sich einst lebendige Bezeichnungen zu zementierten Vorstellungen oder unumstößlichen Konzepten: Gleichsam nur Wände überall. Erreicht ein Echo unser Ohr, wirbeln die Assoziationen wie wild. Die Ruhelosigkeit des diskursiven Denkens ist nichts als zwanghafte Gewohnheit in Bewegung, doch was gehört zum Tanz? (Und wenn Vorgaben und Vorurteile die sprachlichen Grenzen eng stecken, kann jeder zuschauen, wie sich ideologische Denkmuster anmaßend im Kreise drehen.)

Geliebte Sprache, du lädst uns herzlich ein in deinen schönen Raum – und weißt: Unzählig sind die Bilder, die sich verstecken hinter eines jeden Rücken. Mal stehen sie weit hinten, geduldig auf Beachtung wartend; mal nahen sie sich schon grazil – so wie herbeigewünscht. Doch manche (allzu schwergewichtig): Sie fordern ihren Einlass; wollen Bewirtung obenan. Die illustren Gäste aus dem Reich der Bilder haben eigentlich immer allerlei verwandte Gefühle im Schlepptau; die Show geht ab in deinem Haus: DON’T MISS THE BIG VERHEDDERNIS?? (Die Frage muss erlaubt sein! Und: Der Anglizismus ist so reingerutscht.)

Das Fazit: Eine sehr unübersichtliche Gesamtgemengelage wird definitiv bescheinigt. Von dem, der schreibt? Von dem, der liest und in den Spiegel schaut? Dann vielleicht hören wir ihren Ruf und geben ihr die Antwort:

Geliebte Stille, auch du hast deinen Tisch so reich gedeckt!

Etwas verlegen holte ich meine weit abgeschweifte Aufmerksamkeit zurück von ihrem Ausflug in die (lauter Sätze bildende) Gedankenwelt. Dies fiel nicht schwer, denn Malys Präsenz war eine natürliche Einladung in die Gegenwart.

Sie schaute mich voller Erwartung an: „Was meinst du? Ob ich teilnehmen soll?“

Kurz überlegte ich, denn erst letzte Woche bei einem Telefonat hatte sie mir Folgendes erzählt:

Wie zumeist: Der Browser …!

Die Episode fing an mit einem interessanten Artikel irgendeines Online-Magazins; ein neu erschienenes Buch wurde der potenziellen Leserschaft ausführlich vorgestellt. Anschließend hatte sich Maly Schritt für Schritt weiter ‚durchgeklickt‘: Link zum Buch, Hinweise zur Autorin; danach das brandaktuelle Verlagsprogramm. Schlussendlich war sie unter dem Menüpunkt „Service“ beim Thema „Manuskripteinsendungen“ gelandet.

Ich hörte die Schilderung ihrer Gefühle und konnte das Lähmungsempfinden, das sie bei sich wahrgenommen hatte, gut nachvollziehen: Frust pur, sozusagen.

Als ich später die genannte Website aufrief, las ich klar formulierte Richtlinien. Allerdings: Der Ton, der dort herrschte, kam tatsächlich recht harsch herüber. Ob es eine Art vorauseilender Notwehr war? Die Formulierung, dass von telefonischen Nachfragen hinsichtlich eines eingesandten Manuskriptes sowie von „Hausbesuchen“ dringend abzusehen sei, deutete darauf hin: Ein Überangebot mit zu vielen nervigen Irrläufern könnte die Geduld der Verlagsmitarbeiter überfordert haben. Aber Maly? Sie hatte sich vor einiger Zeit mit ihren kleinen Texten auf den Weg gemacht und bräuchte wahrscheinlich (so dachte ich) ein bisschen mehr Ermutigung.

Wie auch immer, meine Antwort schien dies zu berücksichtigen: „Lass uns doch morgen darüber sprechen. Bis dahin schaue ich mir alle Bedingungen einmal in Ruhe an.“

Auf dem Heimweg war ich gespannt auf den Eindruck, den ich gewinnen würde. Als ich später die Zeit fand, mich ‚online‘ mit Details zu befassen, wurde mein Grundgefühl bestätigt: Ein warmer Ton – er macht keinem der Interessenten Angst. Die Hinweise zur Themenwahl – sie schnüren nicht ein und bleiben trotzdem nicht im Vagen: Ein Sei-du-selbst schimmert überall durch.

Ich überlegte, ob sich die angesprochene Fähigkeit, Leser zu ‚fesseln‘, folgerichtig daraus ergibt? („Schreiben ist Handwerk!“: Dieser Glaubenssatz und Rat-Schlag hat sich bei vielen tief eingeprägt …)

Ich beschloss, meinen eigenen Gedanken nicht länger nachzuhängen. Stattdessen wollte ich lieber Maly anrufen und schauen, wie sich unser Gespräch entwickelt …

So: Sie war eben von einem Waldspaziergang zurück …!

„Bergauf – und Rückenwind …!“

Ihre Stimme klang völlig unbeschwert. An diesem grauen Februartag mit dichtem Nebel, Sprühregen und allerlei Böen in den höheren Lagen war sie wie von unsichtbarer Hand unterstützt worden, als der Weg am steilsten war. Nicht alle Tage kommt das vor und sie hatte es bewusst genossen – insbesondere nach den vergangenen Wochen voller Anstrengung, wo bei ihr hin und wieder das Gefühl überwog, alles würde zu viel.

„Ich habe mich entschieden!“, sagte Maly fast nebenbei.

Diese Aussage war eindeutig und ich hörte ihrem Bericht aufmerksam weiter zu:

Die Stunde im Wald hatte einen anderen Verlauf genommen als von ihr geplant. Ursprünglich wollte sie über einen „megaguten“ Anfang nachdenken: Über den geeignetsten Einstieg in ihren neuen Text. Mit diesem Vorhaben war sie zumindest aus dem Haus gegangen. Doch erstaunlicherweise hatte sie bereits nach ein paar Metern ihre größte Sorge loslassen können! Nämlich die, ergebnislos vor einem weißen Blatt zu sitzen – nur mit Leere im Kopf.

Ein weißes (sich wahrscheinlich irgendwie bedingendes) Doppel-Fiasko: Vor dieser Ausdruckslosigkeit, die einen genau in dem Augenblick anfallsartig überfallen kann, wo der kreative Flow am dringendsten benötigt wird, vor jenem (beinahe) hoffnungslos blockierten Zustand der Anspannung – exakt davor fürchtete sie sich so sehr! Ein persönliches (aber nicht nur ihr eigenes) Hemmnis: Intellektuell hatte sie das längst verstanden und darüber hinaus einige Hinweise zur Überwindung von Barrieren erhalten, aber diese bisher noch nie erfolgreich in die Praxis umsetzen können.

Maly versuchte Worte zu finden; sie bemühte sich mir zu beschreiben, wie das Rückenwind-Erlebnis ihr heute (vorhin bei diesem Spaziergang) dabei geholfen hatte: „Manchmal ist nichts zu machen. Das ist wahrscheinlich unser größter Glücksfall. Die hilfreiche Kraft überrascht uns. Wir brauchen sie nur auf uns wirken lassen.“

Sie war entschlossen der Einladung gefolgt, die ihre Erfahrung ihr heute geschenkt hatte:

All die Sätze, die sich in ihrem Verstand zu formen begannen, musste sie nicht mehr krampfhaft festhalten. Kein Notizblock, kein Stift; auch keine Absicht, sich später – wenigstens an einige Lieblingswendungen – wieder zu erinnern.

Angst kam kurz hoch, dass vielleicht nichts bleibt: Versagensangst (das alte Ego-Lied), scheinbar existenziell und von körperlichen Empfindungen unangenehm begleitet; ein berstender Kopfschmerz nahm an Intensität langsam zu.

Aber egal – im Hier und Jetzt war alles andere gleich-gültig:

Wie Wolken am Himmel, wie das, was kommt und auch wieder geht, zogen die Formulierungen heute vorbei, denn ihre Aufmerksamkeit blieb nicht im Kopf. Dort draußen in der Natur war das Augenmerk nicht auf die Gedankensprache gerichtet. Selbst dann, wenn lauter gute Ideen ins Bewusstsein drängten (und drängelten), wenn die perfekten Textanfänge bei ihr Schlange standen: Sie ging immer wieder auf Distanz, ließ alles sofort fallen. Nahezu mühelos, denn ihr Gewahrsein wurde angezogen - von dort, von jenem ‚Raum‘, wo sie der Rückenwind innerlich berührt und sie die empfundene Hilfe als Gottesgeschenk des Augenblicks dankbar angenommen hatte:

„Danke – danke – danke … Das war das einzige Wort, das ich in diesem Moment noch wusste!“

Malys Runde führte an einer bestimmten Holzbank vorbei: Öfters war sie genau dort stehen geblieben – mit weitem Blick auf Stadt und Umland. Manchmal hatte sie sich hingesetzt, eine Pause gemacht (und gelegentlich auch an Vjede und ihre Geschichte gedacht …); es war gewissermaßen eine besondere Bank. Maly schilderte mir, was sie an dieser Stelle gestern gefunden hatte, in solch anschaulicher Weise, dass ich es selber lebhaft vor mir sah:

„Auf der Bank lag ein kleiner bemalter Stein. Eine strahlende Sonne lachte mich an. Eine Weile habe ich sie betrachtet. Schnell ein Foto – und weiter ging es; wie gut, das Gehen zu spüren, meinen Körper, das Herz. Ein einzelner Satz fiel mir ganz unvermittelt ein: SITTING IN THE HEART IS SITTING IN THE SUN. Nur diesen Satz hab‘ ich mitgenommen - als das, was wirklich ist.“

Nach diesem Telefongespräch mit Maly dachte ich daran, Dir bald einen Brief zu schreiben:

Nur knapp und mit leichter Feder.

Wie mit dem Finger auf Wasser.

Aber (Du verstehst …): Das ist gar nicht so leicht …

Übrigens, gestern Abend habe ich gesehen, dass Maly ihr Foto vom Sonnenstein geteilt hat: Eine Einladung breitet sich aus …

UND: FREUDE STECKT AN!


Dein Text soll auch hier stehen?