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Buchstaben im Kopf

zum Wettbewerb

Fynn Pape

Die Gräber, die wir vergaßen

13. April 2024
16-21 Jahre

Es war ein Tag wie jeder andere im Hause Sallow. Naja, nicht ganz wie jeder andere. Es war ein Sonntag und Ephraims Onkel war zu Besuch. Am Esstisch, es gab Braten, herrschte eine unangenehme Stille, was seltsam war, da der Onkel sonst Freude und Ausgelassenheit mit in die Wohnung brachte, als wäre sie Teil der Erde, die aus dem Profil seiner Stiefel rieselte. 

Mutter war so still, wie sie es sonst auch war. Sie konnte also nicht die Quelle des Unbehagens sein. Vater war zuletzt hingegen distanzierter als gewöhnlich, drückte immer öfter die Enttäuschung aus, die sein Sohn Ephraim ihm brachte. Er lebte mit 22 bei seinen Eltern, hatte keine Berufung, geschweige denn eine Frau. Er lag seinen Eltern zwar auf der Tasche, aber so schlimm war das nicht, da sein Vater mit der Fertigungshalle, die er überwachte, genug verdiente und Ephraim ihm auch keine großen Kosten machte. Er ging ja nie aus und fragte auch nicht nach Geld. 

Doch obwohl dieses Gefühl der Unzulänglichkeit, das sein Vater in ihm hervorrief, sich oft mit erdrückender Schwere über seinen Geist legte, war es nicht das, was jetzt diesen Raum füllte. 

Nein, es musste von seinem Onkel ausgehen. Dieser durchbrach schließlich die Stille. 

,,Sag mal Ephraim, was machst du eigentlich gerade.”

Er befürchtete bereits, dass sein Onkel ihn jetzt auch konfrontieren würde.

,,Zur Zeit nichts”

,,Nun, dann hätte ich vielleicht was für dich.”

Vater schaute aufmerksam zwischen den beiden hin und her. Mutters Blick blieb auf den Teller gerichtet.

,,Ich möchte die Arbeit als Friedhofswärter niederlegen. Die kalten Nächte und die nasse Erde sind mir bereits in die Knochen gezogen und ich habe Angst, dass sie mich völlig einnehmen könnten.”

Warum sprach er so? Was meinte er damit?

,,Jedenfalls habe ich mit meinen Vorgesetzten ausgehandelt, dass ich aufhören kann, sobald sich ein Ersatz gefunden hat. Ich fange dann erstmal in der nächstbesten Fabrik an.”

Bevor er antworten konnte, schreckte Mutter aus ihrem tranceartigen Zustand auf und öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Doch bevor sie das konnte trat Vater sie unter dem Tisch und fing selbst prompt mit extatischen Ton an:

,,Das ist doch mal eine gute Nachricht! Du machst das Ephraim. Auch mal eigenes Geld zu verdienen und Erfahrung in einem Beruf zu sammeln wird dir gut tun.”

Er lächelte während und noch nachdem er es sagte.

,,Ja, danke Onkel. Ich möchte es gerne machen”, sagte er in neutralem Ton. 

Der Rest des Essens wurde damit verbracht, Ephraim zu erklären, an wen er sich wo und wann zu wenden hatte und worin seine Aufgaben bestehen würden. 

Die Stille verflog und sein Vater war glücklich. Das war gut.

Bereits am nächsten Nachmittag wurde Ephraim am Friedhof vorstellig. Ein älterer Mann schien auf ihn zu warten. Trotz des dichten Bartes war zu erkennen, wie hager sein Gesicht war. Die Augen lagen tief im Schädel und schauten aufmerksam. Er sah aus wie ein junger Soldat, der eben von der Front zurückkehrte, aber diesen Zustand bis ins Alter mit sich trug. 

Er ging mit Ephraim über den Friedhof und erklärte ihm, dass seine einzige Aufgabe war, nach dem Rechten zu sehen, Unbefugte zu verjagen und Kriminelle der Polizei zu melden. Seine Arbeitszeit war von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang. Und da es bereits dunkel wurde, blieb Ephraim gleich da, als der Mann ging.

Die Nacht legte sich schneller als gewöhnlich über den Tag und mit der Dunkelheit schien auch der Friedhof zu wachsen. Ephraim machte sich also auf seinen ersten Rundgang, wie viele er wohl in einer Nacht machen würde, war sein erster Gedanke, der ihn auch eine Weile beschäftigen sollte. Die Nacht bestand vor allem aus Erkunden, verschiedene Wege gehen, spontane Richtungswechsel. Er schaute wohin es ihn verschlagen würde, wenn er immer links abbiegt, dann immer Rechts. Der Friedhof war groß, so groß, dass Ephraim mit seinen verschiedenen Expeditionen die ganze Nacht verbringen konnte.

Die folgenden Nächte waren ereignislos, auch wenn sein Unbehagen von Nacht zu Nacht größer wurde, da ihm die Aktivitäten ausgingen, um sich von dem Gedanken abzulenken, dass er allein war, umgeben von hunderten Toten.

Ihm war, als hätte er etwas gesehen. Etwas Weißes bewegte sich in der Ferne. Er sah es jedoch nur im Augenwinkel und tat es als Einbildung ab. Er zog seine Taschenuhr heraus, 2:41 Uhr. Obwohl sich sein Schlafrhythmus schnell an die nächtliche Arbeit angepasst hatte, war er doch müde. Auch wenn er sich sicher war, dass es bloße Einbildung war, beschloss er, in die entgegengesetzte Richtung zu gehen.  

Einige Nächte später sah er es wieder, doch diesmal war er sich sicher, dass es echt war. Er kauerte hinter dem nächsten Grabstein und sah über ihn, um es weiter zu beobachten. Ja, es war definitiv eine ganz weiße Gestalt, die über den Friedhof wanderte, Einzelheiten konnte er auf die Entfernung jedoch nicht ausmachen. Als es aus seinem Blick verschwand, beschloss er, allen Mut zu sammeln und dem Etwas zu folgen. Es war schließlich seine Aufgabe, sämtliche Unruhen zu unterbinden, dachte er sich wohlwissend, dass es seine Neugier war, die ihn antrieb und kein Pflichtbewusstsein. Er folgte der Gestalt mit großem Abstand und versteckte sich immer wieder hinter Grabsteinen und Sträuchern, bis er sah, wie sie eine der Gruften betrat. Er blieb die restliche Nacht versteckt und wandte den Blick nicht vom Eingang ab. Bereits gegen 9, er könnte längst zuhause sein, sah er Besucher. Panisch rief er sie zu sich, den Blick noch immer starr auf die Gruft gerichtet, sie sollen die Polizei holen, Grabräuber seien am Werk. Er bewachte weiter die Gruft. Wer oder was auch immer da drin war, musste es noch sein. Es gab ja nur diesen einen Ein- und Ausgang. 

Die Polizei kam schließlich mit einigen Männern. Ephraim erklärte ihnen, was er sah und sie betraten die Gruft, jedoch erst nachdem Ephraim ihnen aufschloss. Er war doch der Friedhofswärter, nur er hatte die Schlüssel zu den Gruften. Wie konnte ihm das entgangen sein? Was immer da drin war, kam ohne Schlüssel durch die Tür. Und Repliken gab es keine, versicherte ihm zumindest der alte Mann bei ihrem Treffen, bei dem er auch die Schlüssel bekommen hatte.

Als die Polizisten also hinein gingen, war Ephraim nach dieser Erkenntnis verunsicherter als zuvor. Er rechnete mit Schreien, Schlägen, sogar mit Schüssen, doch da war nichts. Die Polizisten kamen einfach heraus und sagten ihm, nächstes Mal sollte er sich sicher sein, bevor er so einen Tumult verursachte. Aber er war sich sicher. Als sie gingen, beschloss er, nochmal allein hineinzugehen und wirklich, da war nichts. Bis auf die Tatsache, dass man die Tür von innen ohne Schlüssel öffnen konnte. Er schaute auf die Inschriften. Dies war die Gruft der Familie Gren. Seit Generationen genossen sie großen Einfluss in der Region, stellten aktuell auch den Bürgermeister, dessen Sohn Ephraim noch aus der Schule kannte. 

Wieder zuhause erzählte er seinen Eltern, was geschehen war und fragte, ob sie wüssten, wo er den Gren Jungen finden könnte. Mutter wirkte verunsichert. 

,,Der ist in dieser Nervenheilanstalt hab ich gehört. Wurde gleich als ihr mit der Schule fertig ward eingewiesen. Hat dem Druck des Vaters nicht standgehalten, erzählt man sich. Lächerlich sowas!", sagte Vater. 

Ephraim machte sich gleich auf den Weg. Er wusste selber nicht, wo das Bedürfnis herkam, mit ihm zu sprechen, ihm von dem Vorfall zu erzählen, da ihre Beziehung nie über ein bloßes Kennen hinausging.

,,Hallo, kann man Luis Gren besuchen? Ich bin ein Freund aus der Schule.”

Er wusste, dass das so nicht stimmte, die Frau hinter dem Tresen jedoch nicht.

,,Ja, den Flur runter ist der Aufenthaltsraum, dort müsste er sein.”

Er saß auf einem Stuhl, aus dem Fenster die Stadt überblickend. Er war dünner geworden, die schwarzen Haare endeten  knapp über die Schultern. 

Ephraim stellte sich neben ihn, begrüßte ihn und fragte, ob er sich an ihn erinnern würde. Sein Blick blieb starr auf das Fenster gerichtet. Ephraim erzählte ihm die Geschichte, fragte, ob er wüsste, was es mit der Tür der Gruft auf sich hatte. Er erzählte ihm, dass er davon nichts wüsste, er sich aber von der Gruft fernhalten solle. Als Ephraim fragte warum sagte er nur:

,,Wenn du unbedingt mit den Toten reden willst, solltest du dich zu ihnen legen.”

Er wusste nicht, was er damit meinte, erkannte aber am Ton, dass es besser war zu gehen. Er musste ohnehin zum Friedhof, es wurde schon dunkel. 

Als er da war, traf es ihn wie ein Schlag. Was Luis gesagt hatte, war nicht das Gerede eines Verrückten. Er ging zur Gruft, schloss sie auf und legte sich auf eines der Gräber. Nach einigen Sekunden war ihm, als ob es kippte, er wollte schnell aufstehen, doch ehe er sich versah, fiel er einige Meter in die Tiefe. 

Als er zu sich kam, schauten mehrere Gestalten mit weißen Gewändern, die sie völlig bedeckten, auf ihn herab. Sie trugen große Ketten aus dicken, schwarzen Perlen um ihre Hälse, nur die Hände konnte er sehen. Sie waren gezeichnet mit kruden Symbolen, die für ihn keine Bedeutung hatten. 

Mit verdeckten Augen starrten sie ihn an. Ihm war, als würde sich seine Seele nach außen kehren. 



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