Buchstaben im Kopf
Werner Hardam
Ein Brief von L. G.
Nach Büroschluss fuhr Robert nach Hause, so wie jeden Tag. Er musste an Lena denken, seine Freundin. Ob Lena sich über ihn geärgert hatte? Sie waren am gestrigen Abend in Streit geraten. Wegen Lappalien. Robert würde gern wieder die Wogen glätten. Aber wie?
Er parkte seinen Wagen vor dem Haus, in dem sich seine Wohnung befand: im zweiten Stock rechts. Er schaute nach oben. In der Wohnung brannte kein Licht. Also war Lena nicht da.
Er schloss die Haustür auf, ging zum Briefkasten. Vielleicht hatte sie dort eine Nachricht für ihn hinterlassen. Tatsächlich, im Kasten steckte ein Brief. Robert nahm ihn heraus. Auf dem Umschlag stand seine Adresse, handschriftlich verfasst. Der Brief trug keinen Stempel. Irgendjemand musste vorbeigekommen sein um ihn einzuwerfen.
Als Absender war L. G. angegeben. Kam der Brief von Lena? Sie hieß mit Nachnamen Günzberg.
Lena schrieb nur selten Briefe. Nutzte vor allem ihr Handy um anderen etwas mitzuteilen, meist per E-Mail oder über WhatsApp. Die Abkürzung LG bedeutete für sie, wie überall sonst, ‚Liebe Grüße‘. ‚Liebe Grüße‘ sind aber kein Absender.
Vor einem Monat hatte sie zu Robert gesagt: „Sollte wirklich mal der Moment kommen, ab dem du mir über bist, werde ich dir das frühzeitig mitteilen, und zwar schriftlich.“
Er hatte damals dümmlich gelacht: „Das meinst du wirklich?“
„Klar. Warte es ab.“
War der Moment jetzt eingetreten? Hatte er sie vernachlässigt? Wahrscheinlich nicht. Bei dem Streit gestern hatte es sich wirklich nur um Kleinigkeiten gehandelt.
Lena war vor einer Woche bei ihm eingezogen. “Damit ich näher bei dir bin“, hatte sie gesagt. Er fand das toll. So redet niemand, der eine Beziehung beenden möchte.
Er ging zu einer Wohnungstür im Parterre, klingelte. Der alte Hinze wohnte dort. Hinze konnte nicht mehr gut laufen. Saß meistens auf einem Stuhl am Küchenfenster in seiner Wohnung. Bekam von dort mit, wer am Haus vorbeiging, ins Haus wollte oder aus diesem kam.
Ob er auch gesehen hatte, dass Lena wegging? Er kannte sie von Gesprächen im Hausflur her. Hatte er verfolgt, wie sie einen Brief in Roberts Briefkasten warf?
Die Zeiten, zu denen Lena arbeitete, waren andere als die von Robert. Sodass sie nie zusammen das Haus verließen.
Niemand öffnete Hinzes Tür. Er schien nicht zu Hause zu sein. Auch ein zweites Mal Klingeln half nicht.
Robert fiel ein, dass Hinze vorhatte seine Wohnung aufzugeben. „Ich möchte in ein Pflegeheim“, hatte er gesagt. „Bin zu alt, um weiter allein für mich zu sorgen.“ Dass seine Frau vor ihm gestorben war, schmerze ihn sehr. Wann genau der Umzug stattfinden sollte, hatte Hinze nicht gesagt. „Meine Kinder werden sich darum kümmern. Das haben sie versprochen. Obwohl sie stöhnen, sie hätten nie Zeit.“
„Ja, so ist das mit Kindern“, hatte Robert ihm beigepflichtet. Er selbst hatte ja keine, noch nicht. Er hatte Hinze geholfen, Sachen einzupacken und in Kisten zu verstauen. Einige der Kisten standen im Flur. Die sollten beim Umzug als erste weggeholt werden. Robert schaute nach. Die Kisten waren weg. Also hatte der Umzug stattgefunden, als er noch im Büro war.
Robert fand es ärgerlich, dass Hinze gegangen war ohne sich bei ihm zu verabschieden. Roberts Hilfen beim Einpacken und Verstauen hätten schon ein kleines Dankeschön verdient. Egal, wie schnell Hinzes Kinder den Umzug abwickeln wollten.
Robert stieg die Treppen zu seiner Wohnung hoch. Oben angekommen, holte er das Handy aus der Tasche, rief Lena an. Was dieser ominöse Brief bedeutete, wollte er sie fragen. Der Anruf gelang nicht. Sie hatte ihr Handy ausgeschaltet.
Er setzte sich in einen Sessel. Er kannte außer ihr niemanden, dessen Name sich mit L. G. abkürzen ließ. Vielleicht hatte eine Behörde den Brief geschickt. Unsinn, amtliche Texte werden nicht handschriftlich verfasst. Und welche Behörde sollte das sein? Ein ‚Landgericht‘? Mit Landgerichten hatte er in seinem Leben noch nie zu tun gehabt.
Er könnte ja trotzdem mal in den Brief schauen. Mit spitzen Fingern versuchte er den Umschlag am Klebefalz auf zu pulen. Es gelang ihm nicht.
Enthielt der Brief Werbung? Für Ledergürtel oder Luftgewehre? Auch Unsinn. Niemand bestellt sich Ledergürtel oder Luftgewehre heute noch offline.
Es war wirklich ärgerlich, dass Hinze an diesem Tag nicht auf seinem Beobachtungsposten gesessen hatte. Er hätte gesehen, welche Personen vorbeigekommen waren um Briefe einzuwerfen.
Robert stand auf, ging im Zimmer auf und ab. Auf dem Tisch lag ein Schriftstück. Er schaute es sich an. Es war eine Einladung zu einer musikalischen Veranstaltung. Für ‚Lohengrin‘?, schoss es ihm durch den Kopf. Aber Lohengrin verfasst keine Briefe.
Die Einladung war von Lena. War an ihn, Robert, gerichtet.
Lohengrin sang in der Oper, rätselte er, Lena in einem kleinen, aber feinen Chor. Sie war Mitglied dort. Dauernd wurde geübt, denn demnächst sollte eine öffentliche Aufführung stattfinden. „Ruf mich nicht an, wenn ich übe. Das würde stören“, hatte sie gesagt. „Wir stellen die Handys ab.“ Robert sollte unbedingt zu der Veranstaltung kommen. Damit er hören konnte, wie schön der Chor und sie sangen. Robert war gerührt. Was war er doch, im Vergleich zu ihr, für ein Esel.
Er öffnete Schranktüren. Lenas Sachen waren alle noch da. Sie war nicht ausgezogen, hatte den gestrigen Streit wahrscheinlich längst vergessen. Also war alles okay? Fast so, bis auf den Brief.
Robert riss ihn auf, holte den Briefbogen heraus.
„Lieber Robert“, las er, „Tut mir leid, dass ich so schnell aus meiner Wohnung musste, ohne dir Lebewohl sagen zu können. Aber meine Kinder waren wie immer in Eile. Du warst mir eine große Hilfe beim Ordnen und Einpacken meiner Sachen. Das hätte ich allein so nicht geschafft. Hab Dank dafür. Meine neue Adresse lege ich diesem Brief bei. Ich würde mich freuen, wenn du bald mal anrufst und mich dann besuchst. Dann könnte ich dir auch meine neue Unterkunft zeigen. Und mit dir quatschen, so wie früher.
Es grüßt dich dein Freund und Nachbar Leopold Griesheimer, genannt Hinze.“
Robert war baff.
„PS. Lena ist eine Klassefrau. Die solltest du dir halten.“
Robert hörte, wie die Wohnungstür aufgeschlossen wurde. Das musste Lena sein. Ihm fiel ein Stein vom Herzen. Sie war zurück!