Buchstaben im Kopf
Zenek Lubitz
hōrológion
Im 16. Jahrhundert verlief die Zeit gewissermaßen das letzte Mal in ihrer natürlichen Form. Mit der Erfindung der jedenfalls für damalige Verhältnisse massentauglichen Taschenuhr sollte der Lauf der Sonne in den kommenden Jahrhunderten vergessen und abgelöst werden von einem in absolut gleichmäßigen Abständen verlaufenden Zeitstrahl.
Dass die Zeit sich entlang eines solchen gradlinigen Strahls vollstreckt, der nur eine Richtung kennt, ist also eine Erfindung. Und wir Uhrmacher sind die einzigen, die noch dieses Geheimnis kennen, und vielleicht spreche ich deswegen noch von uns als wären wir eine Zunft, auch wenn ich seit Le Locle, seit der Ecole d'horlogerie wohl kaum je wieder einen anderen Uhrmacher getroffen habe. Das ist, ich weiß nicht, wie lang es her ist, eine Ewigkeit. Es ist eine aussterbende Zunft, und manchmal bin ich der festen Überzeugung, dass es die Zeit höchstpersönlich ist, der Zeitpfeil, der uns alle irgendwann restlos aufspießen wird.
Im Rückblick verliert sich eigentlich alles. Es löst sich auf. Ich würde ja am Anfang anfangen, aber ich weiß nicht, wann das ist. Natürlich kenne ich meinen Geburtstag, aber es fängt ja eigentlich schon viel früher an. Ein Großonkel hat einmal Genealogie betrieben, er hat uns einen Zettel mit einem Stammbaum gegeben, beides ist schon lange weg, der Großonkel ist tot und der Zettel ist verschwunden. Der Stammbaum ging zurück bis genau ins Jahr 1624, das Geburtsjahr meines Vorvorfahren Frerk, das habe ich mir gemerkt, von ihm an werden alle männlichen Verwandten über sechs Generationen Frerk heißen, wie lang das vor ihm schon so ging, weiß ich nicht. Die Frauen werden nicht einmal namentlich erwähnt. Sie sind schon vollständig aus der Zeit gefallen.
Alle von ihnen waren Bauern. Die Frauen tauchen viel später auf, da macht es schon Sinn, Ur-Silben zu setzen. Meine Ururgroßmutter etwa, ihr Name steht nirgendwo, aber ein von deiner Mutter unterschriebenes Vergissmeinnicht steht im Poesiealbum ihrer Tochter, meiner Urgroßmutter Alma, das war 1889. Gedenke nah, gedenke fern, gedenke meiner oft und gern, hat sie geschrieben.
Meine Urgroßmutter Alma hat Tagebuch geführt, im Alter, sie war natürlich auch eine Bäuerin, aber sie hat Tagebuch geführt, sie hat das Tagebuch geführt wie eine Altbäuerin. Sie hat es geführt für ich weiß nicht wie lange Jahre, aber davon übrig ist nur ein Büchlein, das von 1933 bis 1935 reicht. Sie hat immer das Wetter und jeden Besuch dokumentiert, eingehend und ausgehend, jede Person, ihre Mutter kommt nicht vor. Sie hat auch jede bäuerliche Tätigkeit protokolliert, wann Hinrich misten war oder die Milch ausgefahren hat, Hinrich war ihr Sohn, er war auch Milchfuhrmann, dann musste er zur Wehrmacht. Davon steht nichts in dem Büchlein, das von 1933 bis 1935 reicht. Hitler kommt darin einmal vor, dann der Reichstagsbrand, es ist der 27. Februar 1933, Reichstagsgebäude gebrannt, schreibt sie, von Kommunisten angesteckt, Hinrich Bohnen reinigen. Sie stirbt soweit ich weiss 1936, sicher weiss ich es nicht. Ich weiss auch nicht, ob ihre Worte ein Text sind, ob Reichstagsgebäude gebrannt, von Kommunisten angesteckt, Hinrich Bohnen reinigen ein Text ist, ob sich das alles zu einem Text zusammenfügen lässt, wenn ich lang genug warte, wenn ich die Worte oft genug lese, denn sie sind es noch nicht, sie sind noch kein Gefüge und es fehlen zu viele Teile, als dass ich eigentlich wirklich sagen könnte, dass sich etwas abspielt. Es kommt nichts in Bewegung. Ich werde aus den Worten nicht klüger. Ich lese oft diese Zeilen, ich lese auch Kundgebung Deutschland gesiegt zwei Tage nach der Saarabstimmung, als das Saarland nach heftigster NSDAP-Propaganda zu einem Teil des Deutschen Reiches wurde. Es reicht nicht, um ihre Wut über die Kommunisten zu spüren, Freude über das siegen, nichts ließe wiederum aber auch auf eine Distanz zu den Nationalsozialisten schließen, alle ihre Worte stehen stattdessen einfach unter einem ewigen Verdacht, und die Spannung löst sich nicht, ich habe ihre Worte endlos angeschaut, die Spannung löst sich nicht auf.
Meine Urgroßmutter Alma hatte eine Taschenuhr mit Lépine-Kaliber, das Glas ist wegen des fehlenden Sprungdeckels so zerkratzt, man kann nichts mehr dahinter erkennen. Ich habe das Uhrwerk natürlich längst auseinandergenommen, ich weiß, wo der Fehler liegt. Es sind noch alle Zeiger da, sie würden sich auch nach Jahrzehnten wieder in Bewegung setzen. Aber ich werde das Glas nicht austauschen, das Glas muss erhalten bleiben, auf dieser Uhr die Zeit lesen zu können, wäre gelogen.
Ich sammle keine Uhren, aber ich bin ein Sammler. Uhrmacher sind ja immer Sammler, aber meistens sammeln sie Uhren. Ich sammle anderes, Verschiedenes ist dabei, ich habe verschiedene Sammlungen, aber hauptsächlich sammle ich altes landwirtschaftliches Gerät. Ich habe ja ein altes Haus, und meine Sammlungen befinden sich in der Diele, es ist ja ein altes Haus, und die Diele war früher mal ein Stall. Es sind in letzter Zeit kaum neue Stücke dazugekommen. Manchmal stehe ich ratlos in der Diele und verschiebe die Dinge, bringe die Sachen in eine neue Ordnung, ich weiß eigentlich gar nichts wirklich mit mir anzufangen.