Buchstaben im Kopf
Hanna Reichel
Im Haus war es still
Von der heißen, stickigen Sommerluft war im Inneren des imposanten Betonsteinhauses nichts mehr zu spüren. Hier drinnen war es stattdessen ungewöhnlich dunkel und kalt, was Ella einen leichten Schauer über den Rücken laufen ließ. Sie bildete sich sogar ein, ein leises Wimmern zu hören, das wie ein kalter Windzug zunächst im Kreis um sie herum, bis hoch an ihre Ohren getragen wurde. Ob an den Geistergeschichten, die sich um das alte Haus rankten, womöglich doch ein bisschen Wahrheit dran wahr? „So ein Quatsch!“, hörte Ella sich selbst sagen. Ihre Stimme hallte überzeugt von den Wänden wider. Sie schüttelte das ungute Gefühl ab, jetzt war definitiv nicht der richtige Zeitpunkt, um anzufangen, an Geister und Gespenster zu glauben. Ella ließ ihren Blick prüfend durch den Raum schweifen. Durch ein kleines Fenster in der gegenüberliegenden Wand konnte sie einen Blick auf den Garten erhaschen. Meterhohe Sträucher, ungemähtes Gras und dicht wuchernde Brombeerhecken ließen ihn wild und ungepflegt wirken. Der Garten würde wohl zwar eine ganze Menge Arbeit mit sich bringen, aber das Haus war insgesamt, wie versprochen, in sehr gutem Zustand. Wasser, Strom und Heizung funktionierten einwandfrei, die Bäder schienen frisch renoviert und auch an den Fenstern konnte sie keine Mängel erkennen. Die einzige (zugegebenermaßen merkwürdige) Bedingung, die im Kaufvertrag aufgelistet gewesen war, verpflichtete sie dazu, die geringe Anzahl an zurückgelassenen Möbeln im Haus an Ort und Stelle stehenzulassen. Ella durfte diese weder zerstören noch bewegen; die Möbel mussten zwangsweise an ihrem Platz bleiben. Auf ihre Nachfragen konnte der aufgesetzte Makler mit dem schmierigen, blonden Mittelscheitel keine richtige Antwort geben, und so hatte sie beschlossen, einfach darüber hinwegzusehen und den Kauf trotz dieser merkwürdigen Klausel abzuschließen. Schließlich war der Preis unschlagbar gewesen, auch wenn das Haus etwas abgelegen lag. Die Entfernung zu den nächsten Nachbarn, geschweige denn zur nächsten richtigen Stadt, störte sie jedoch nicht besonders, das Gegenteil war der Fall. Ella hatte sich bis zu diesem Moment geradezu auf die Ruhe, die sie sich von der Lage ihres neuen Heims versprach, gefreut. Ihr Job als Innenarchitektin in einem großen Büro war schon stressig genug; das große, stille Haus hatte sie sich als perfekten Ausgleich vorgestellt. Doch jetzt war sie nicht mehr so überzeugt von ihrer überstürzten Kaufentscheidung. Ihre Schultern hatten schon begonnen zu zittern, ob von der Kälte oder dem mulmigen Gefühl, welches sich immer weiter in ihrem Körper ausbreitete, konnte sie nicht sagen. Wieder hatte Ella das Gefühl, ein leises Wimmern würde durch den ganzen Raum bis hin zu ihr getragen werden. „Jetzt reiß dich mal zusammen!“, motzte sie sich selbst an. Sie würde sich ihren perfekten Plan nicht wegen ein bisschen Wind kaputtmachen lassen. Heute war sie zum ersten Mal nach Einwilligung des Kaufvertrags in ihrem Haus. Sie hatte mit ihrem eigenen Schlüssel die Tür zu ihrem eigenen Haus aufgeschlossen und konnte hier jetzt eigentlich alles machen, was sie wollte. Es war ja schließlich IHR Haus. Und der ominöse Punkt im Vertrag konnte sie von gar nichts abhalten, denn Ella hatte bereits einen Plan für die zurückgelassenen Möbelstücke, den sie jetzt umsetzten wollte. Dieser bestand darin, die wenigen Möbel zunächst auf den Dachboden zu verfrachten, somit waren sie erstmal außer Sichtweite und ihr standen bei der Einrichtung des Hauses alle Türen offen. Ihr erster Weg führte Ella in einen geräumigen Raum im oberen Stockwerk, den sie gedanklich schon als gemütliches Wohnzimmer mit großer Couch und hohen Bücherregalen einplante. In der hinteren Hälfte des Raumes erblickte sie ihr erstes Opfer, eine kleine schwarze Holzkommode, auf deren Oberfläche sich eine beachtliche Menge an Staub angesammelt hatte. Ella versuchte angestrengt, die merkwürdigen Wimmergeräusche, die anscheinend nicht verschwinden wollten, auszublenden. Entschlossen trat sie an das Möbelstück heran und versuchte zunächst, es hochzuheben. Die Kommode war deutlich schwerer, als sie aussah, und erst nach mehreren Versuchen, dem richtigen Winkel und perfekten Griff gelang es ihr, die Kommode durch die Tür in den Flur zu schleppen. Nach einer kurzen Verschnaufpause wagte sie sich an die wahre Herausforderung: die Wendeltreppe zum Dachboden. Diese führte zwar nicht besonders weit nach oben, allerdings war sie eigentlich zu eng für Ella und die Holzkommode. Ella bedachte die Wendeltreppe mit einem prüfenden Blick. Sie würde die Holzkommode ein bisschen ankippen und ihre Position nach jeder Treppenstufe etwas verändern müssen. „Los jetzt!“, motivierte sie sich und die Holzkommode. Das immer lauter werdende Wispern und die immer weiter sinkende Raumtemperatur würde sie jetzt nicht zu sich durchdringen lassen. Nur noch diese kleine Treppe, dann war es geschafft. Entschlossen atmete sie durch, griff sich die Kommode, positionierte sich seitlich an der Wendeltreppe und begann den Aufstieg. Erst ein Fuß, dann der andere dazu. Ein bisschen drehen, dann ein Fuß, dann der andere. Ein bisschen weiterdrehen, ein Fuß, dann der andere. Ihre Hände fingen an zu schwitzen, das Möbelstück drohte ihr aus den Händen zu rutschen. Das Wimmern schien um ihren Kopf herumzuwirbeln und wurde immer lauter. Ein bisschen drehen, erst ein Fuß, dann der andere. Der Staub auf der Wendeltreppe war gefährlich rutschig; wenn sie ihren Fuß falsch aufsetzte, würde sie vermutlich wegrutschen. Ein bisschen drehen, erst ein Fuß, dann der andere. Ella war schwindelig, ihre Ohren dröhnten. Ein bisschen drehen, erst ein Fuß, dann der andere. Der Drang, ihre Hände von der Kommode zu lösen, um sie sich vor die Ohren zu halten, war überwältigend, doch wenn sie die Kommode losließ, würde diese auf Ella fallen und sie mit sich die Treppe herunterreißen. Ein bisschen drehen, erst ein Fuß, dann der andere. Ein bisschen drehen, erst ein Fuß, dann der andere. Ella konnte nicht mehr vor und nicht zurück. Ihre Sicht verschwamm, in ihren Ohren kreischte es, um sie herum schien sich alles zu drehen. Ein bisschen drehen, erst ein Fuß …, sie spürte, wie ihre Hände sich lösten und ihre Füße an Halt verloren.
Im Haus war es still.