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Buchstaben im Kopf

zum Wettbewerb

Timo Schartner

Oma muss ins Heim – eine herbstliche Weihnachtsgeschichte

20. Juni 2024
29-40 Jahre

Ein verschwommener Film aus Feldern zog an mir vorbei, während ich verträumt und in Gedanken versunken aus dem Fenster blickte. Der langsam erkaltende Schleier des Spätherbstes lag über der Landschaft und ließ noch vereinzelt das goldene Laubwerk aufblitzen, welches an wärmere Tage erinnerte. Ich blickte in den Himmel und beobachtete, wie die Wolken ihren wechselhaften Tanz mit den hin und wieder durchbrechenden Sonnenstrahlen aufführten.

Je weiter wir dem Ziel kamen, umso mehr ergrauten Himmel und auch Landschaft. Seit dem letzten Treffen an diesem Ort war viel Zeit vergangen. Fast ein Jahr, als wir uns alle wiedersahen. Ich dachte nach. Über das, was hinter uns lag und jenes Undurchschaubare, was noch vor uns liegen würde.

Der Anlass des heutigen Treffens war ebenso traurig, wie schwermütig. Meine Gedanken kreisten. Nostalgisch dachte ich an die etlichen Male zuvor, die wir an diesem Ort zusammenkamen, den die Zeit uns nun zu entreißen drohte. Ein stiller Abschied, ein Übergang zu einem neuen Kapitel stand uns bevor. Für die einen mehr, für die anderen weniger. Doch eins stand fest – so wie heute würden wir uns nie wieder sehen.

Die Dämmerung hatte den Himmel bereits fest im Griff, als wir am späten Nachmittag die alte Heimat erreichten. Es hat immer wieder etwas Mystisches an sich, hierher zurückzukehren. In dieses Dorf, mit dem jeder von uns – ganz für sich und im Stillen – eine tiefe Bindung teilt. Erinnerungen, Kindheit – Familie.

Die bröckligen Straßen waren noch immer dieselben und auch die Häuser hatten sich kaum merklich verändert. Als hätte dieses Fleckchen Erde sich gänzlich dem Würgegriff der Zeit entzogen. Gebadet in Erinnerung fuhren wir den altbekannten Weg, welcher uns hier und da eine kleine Anekdote bereithielt.

Als wir in die Zielstraße einbogen, machte sich der Schwermut breit. Was würde uns heute erwarten? Wir parkten vor der Haustür, schnellten durch den Regen zum Vordach und klingelten. Als wäre es wie immer, doch heute war es anders.

Das Zusammentreffen war von einer Atmosphäre umgeben, die Freude und Trauer in sich einte. Als wir die Wohnung betraten, standen bereits Koffer und Kartons im Flur, die Schränke waren geöffnet. Die Freude des Wiedersehens war groß, auch wenn sie nur ein kleiner Lichtblick in dem Schatten war, den der heutige Anlass aufwarf. Und dennoch hatte es denselben kindlichen Zauber in sich, als ich an diesem Tag die große Gefriertruhe öffnete, die damals stets unser Lieblingswaffeleis bereithielt. Ein letztes Mal.

Wir teilten uns auf, packten Koffer und Kartons und begannen die Sachen für den Auszug vorzubereiten. Während wir Schrank um Schrank durchwühlten, entdeckten wir alte Artefakte, Fotoalben und Erinnerungen. Sie steckten in jedem Quadratmeter dieser Wohnung. Sie entführten uns in längst vergessene Zeiten. Fotos, die uns zeigten, dass es nicht immer so war. Die uns vor Augen riefen, wie der Zahn der Zeit, dem Familienglück zugetragen hatte. Ein tieferes Zusammenkommen, als dieses hatten wir selten erlebt. Die Monate davor. Die Wochen vor der Entscheidung. Die Zeit unterzog uns einer harten Probe. Die einen mehr, die anderen weniger, doch letztendlich war das Entscheidende, dass wir da waren. Der daraus hervorgehende Familiengeist, war in all seiner Wärme, aber auch seinen Abgründen zu spüren.

So auch, als ich in Omas Arbeitszimmer betrat, in dem sich bergeweise Fotos und Alben türmten, die von meinen Cousins und Cousinen lachend durchwühlt wurden. Es waren mehr als nur Bilder. Manche waren auseinandergeschnitten, alten Fotoalben entrissen und auf Blätter geklebt. Beschriftet mit kleinen Notizen und Gedankenbruchstücken auf der Rückseite.

Mich beschrieb sie als ihren kleinen Lockenkopf. Immer lachend und fröhlich. So hatte ich sie auch in Erinnerung, bevor sie den Depressionen und dem Alkohol erlag. Der Mensch, der sie einst war und der, den das Leben aus ihr machte.

Inmitten dieser wahnsinnig wirkenden Notizen sah ich ihr Herz. Die Schwere der Vergänglichkeit, die es ertragen musste, die sich für uns junge Menschen kaum erahnen lässt. Ich fühlte ihren Schmerz und die Ohnmacht, die sie zu dem unkontrollierten Nervenbündel machten, das sie heute war. Zehn Jahre lang hatte sie ihren dementen Mann Zuhause gepflegt. Bis er eines Tages von uns ging. Als er seinen Frieden fand, musste sie mit dem Loch leben, das er hinterlassen hatte. Wer war ich, ihr jemals Vorwürfe gemacht zu haben? – Fragte ich mich, während eine Träne der Vergebung meine Wange hinunterlief und auf das Foto tropfte, auf dem sie ihren kleinen Lockenkopf im Arm hielt.

Es hatte beinahe schon etwas Weihnachtliches, als wir uns gegen Ende alle in der Stube wiederfanden. Viele Feiertage oder andere Anlässe hatten uns hier zusammengeführt. Mit der Zeit wurden diese Treffen immer seltener und auch das Weihnachtsfest verlor an Tradition und Wärme. So blieb uns in den letzten Jahren zumeist nur ein merkwürdig anlastender Besuch in der Klinik. Frühling und Winter – Weihnachten im Herbst. Der Gedanke, dass dies das letzte Mal sein würde, festigte sich langsam, aber schmerzlich. Denn das, was wir an diesem Tag eigentlich reisefertig machten, war unsere Erinnerung. Und für diese bin ich dankbar. Denn wenn uns alle etwas verbindet, so ist es das innige Gefühl, das wir aus dieser Zeit ziehen.

Familie …