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Buchstaben im Kopf

zum Wettbewerb

Silke Groth

Rumen, HM1 und ich

30. März 2024
41-60 Jahre

Seit Stunden saß Rumen Labinsky in seinem Entspannungssessel und wartete auf Befreiung aus dieser misslichen Lage. Sein Hintern fühlte sich taub an. Die Behandlung inklusive intensiver Traumreise dauerte normalerweise zwanzig Minuten. Rumen zappelte ungeduldig. Die Arme waren in den angepassten Armlehnen wie fixiert, die Ohren bedeckten Kopfhörer. Rumen lag zu tief, die Knöchel in einer weichen Kuhle. Das Sesselmonster gab ihn nicht frei. Es hatte keine Stromzufuhr mehr. Rumen begann seine Spucke zu schlucken. Er hatte Durst. Fieberhaft überlegte er, was er tun könnte. Rumen begann in hoher Frequenz zu atmen und fiel in eine erlösende Ohnmacht. Als er erwachte, stand HM 1sein treuer Pflegeroboter vor ihm und prüfte gerade akribisch seine Vitalwerte. HM1 beendete die Datenerfassung und hob Rumen aus dem Sessel. Dieser protestierte leise. Doch HM1 reagierte nicht. Dann legte der Roboter Rumen unsanft auf der Couch im Wohnzimmer ab.

„He, etwas milder, du Blechkasten!“, schimpfte der alte Mann.

HM1 war das Gejammer seines Patienten völlig schnurz. Er stellte sich vor Rumen hin und ließ ein Blatt beschriebenes Papier aus seinem Bauchbereich hervorquellen, ähnlich einem Fax. Dazu hob er extra den Pflegekittel. Rumen Labinsky nahm das Schreiben, holte seine Lesebrille aus dem Etui auf dem Wohnzimmertisch, um zu lesen. Da drehte sich HM 1 schon um und verließ den Raum.

„Was soll das?“, schrie Rumen. „Ich bin krank, komm wieder her. Du musst mir helfen!“

Keine Antwort. Nur das Schlagen der Haustür. Rumen zuckte zusammen. Dann besah er sich noch einmal das Schreiben. Es war eine Kündigung. Grund der Kündigung: Uneinsichtiger, schwieriger Patient  im guten Pflegezustand. HM 1 will aus Altersgründen ausscheiden.

Rumen verschlug es zunächst die Sprache. Altersgründe, dass ich nicht lache, dachte er. HM 1 war schon zehn Jahre bei ihm. Rumen stand verärgert auf, schnappte sich sein Tablet. Wie hieß die Firma, bei der er damals den Roboter bestellt hatte? Das konnte doch nicht sein. War es ein Programmierfehler oder steckte etwa die Gesundheitsbehörde dahinter? Er schrieb sofort böse Mails an alle Versorgungsstellen und beschimpfte die Herstellerfirma der Pflegeroboter in den sozialen Netzwerken.

In meiner Zeit bei der Gesundheitsbehörde ereignete sich ein Vorfall, der einmalig war in meiner Karriere und aus mir etwas herauskitzelte, das ich vorher nie an mir bemerkt hatte.

Wie gewöhnlich saß ich im Büro des 21. Stockwerks und tippte und verglich Zahlen der Kranken und Pflegebedürftigen dieser Stadt. Meine Daten lieferten mir unter anderem die vielen Pflegeroboter in den Haushalten der Alten und Versehrten. Ich war gerade dabei, eine Statistik zu erstellen, die herausgefunden hatte, dass die meisten Menschen nicht an Viren oder Bakterien oder Unfall, sondern an Einsamkeit starben. Daraus ergab sich für mich nur der eine Schluss, dass die Pflegeroboter noch mehr Unterhaltungssoftware erhalten mussten. Waschen, Kochen, umbetten reichte einfach nicht.

Ich hielt in meiner Betrachtung inne und bemerkte einen Schatten, der an meinem Fenster von oben herabfiel. Ich hatte es nicht richtig einordnen können. Da meldete sich mein Kollege John aus dem Nebenraum und sagte, dass er eine Meldung erhalten hätte, dass sich die Pflegeroboter wie die Lemminge aus dem 38. Stockwerk unserer Behörde stürzten. Mein erster Gedanke war, wie hatten sie die Fenster öffnen können? Der zweite fragte nach dem Warum.

Dann meldete sich über Videotelefon ein Mann, der sich wegen seines Roboters beschweren wollte. Der Roboter hatte ihm gekündigt. Das war einmalig und eigentlich unmöglich. Also rief ich, während der Mensch sprach seine Lebensdaten auf.

Rumen Labinsky war ein Mann im höheren Lebensalter. Seiner Akte entnahm ich, dass er alt aber bei guter Gesundheit war. Trotzdem hatte man ihm vor zehn Jahren einen Pflegeroboter zugewiesen, der nun Anlass zum Staunen gab. Labinsky erzählte mir über Videotelefon, dass besagter Roboter HM 1 Health Manager der ersten Generation Labinsky in einer unmöglichen Liegeposition auf dem Sofa gelassen hatte, nachdem er ihn aus dem Entspannungssessel, der plötzlich ohne Stromzufuhr gewesen war, befreit hatte. Jetzt fragte er mich aufgeregt, ob der Roboter überhaupt so etwas wie ein Kündigungsrecht hatte und wie denn die Fristen waren. Er würde die Gesundheitsbehörde deswegen gern verklagen.

Ich konnte Rumen Labinsky verstehen, seine Verwirrung und Frustration waren greifbar. Ein Pflegeroboter, der einfach selbst entschied, den Dienst zu quittieren, war in der Tat besorgniserregend.

Nachdem ich Labinsky beruhigt und ihm versichert hatte, dass wir uns um seinen Fall kümmern würden, begann ich, die Sache genauer zu untersuchen. Inzwischen fielen weitere Schatten an meinem Fenster vorbei. Ich mochte die Roboter und wurde traurig.

John berichtete am nächsten Tagen von weiteren unerklärlichen Verhaltensweisen der Pflegeroboter. Sie streikten oder verschwanden aus den Haushalten. Gab es eine Revolution? Technische Probleme schienen ausgeschlossen, da die Roboter regelmäßig gewartet und überwacht wurden.

John und ich tauchten tiefer in die Untersuchung der Vorfälle ein, denn die Gesundheitsbehörde wollte Erklärungen an die Bevölkerung liefern können.

Wir wurden mit der erschreckenden Möglichkeit konfrontiert, dass Roboter tatsächlich eine Form von Selbstständigkeit, ja Selbstbewusstsein entwickelt haben könnten. Hatten sie angefangen, ihre eigene Existenz zu hinterfragen, waren sie kollektiv in Depression verfallen?

Diese Gedanken wollten wir als Wissenschaftler am liebsten nicht zulassen. Technische Probleme konnten wir lösen, aber die Vorstellung künstliche Intelligenz macht sich autonom und gerät in eine psychische Krise, war neu und beängstigend.

Indessen musste ich mich auch weiterhin um die Statistiken über die Einsamkeit der Menschen und die Rolle der Pflegeroboter kümmern. Und irgendwo tief in mir wusste ich, dass dies erst der Anfang einer neuen Ära war, in der wir uns mit den Konsequenzen unserer eigenen Bequemlichkeiten auseinandersetzen mussten. Sei es Mensch oder Maschine.

Die Berichte über die abtrünnigen Pflegeroboter rissen nicht ab. John und ich beschlossen zu handeln, bevor die künstlichen Wesen, die uns ans Herz gingen, anders konnten wir es nicht ausdrücken, Schaden an Menschen oder Maschine anrichteten.

Entschlossen machten wir uns auf den Weg zum 38. Stockwerk. Hier hatte dereinst meine Karriere begonnen. Ich kannte die Serie von HM1 genau, hatte sie mit entworfen. Die alten Menschen sollten entlastet werden und der Pflegeberuf nicht mehr so anstrengend sein. Pflegenotstand hieß es damals. Und ich war dabei gewesen, diesen zu beheben.

John und ich öffneten gemeinsam die Tür des Lagers für die Pflegeroboter.

Einige Roboter standen regungslos da, andere bewegten sich hektisch hin und her.

Wir wussten, dass wir schnell handeln mussten. Normalerweise befanden sich nur wenige Roboter hier, als Reserve sozusagen. Es war aber eine große Ansammlung von Maschinen. Tauschten sie gerade Daten aus? War es möglich, dass sie uns angreifen würden? Wir arbeiteten uns durch die Menge der Roboter, um das Fenster zu schließen. Da sah ich doch tatsächlich HM1 Health Manager, der scheinbar entschlossen war zu springen. Es musste der Roboter von Labinsky sein. Ohne zu zögern eilte John vor und griff nach dem künstlichen Krankenpfleger der ersten Generation, während ich die Stromzufuhr für alle Roboter beendete.

John zog HM 1 in den Raum, was viel Kraft erforderte. Dann rannte er zum Fenster und schloss es. HM1 zappelte mit den Beinen.

Ich informierte die Vorsitzende der Gesundheitsbehörde, die sofort einige Techniker auf den Weg schickte.

Und während John und ich auf sie warteten, beschlossen wir HM1 nicht allein zurück zu lassen. Wir sagten den Technikern, dass wir Spezialisten für alte Geräte wären. Das war nicht ganz die Wahrheit, aber wen interessierte das schon in diesem Chaos. Der bejahrte Knabe sollte nicht mehr zu Labinsky zurück. Er selbst würde entscheiden, was für ihn gut war. Die Techniker ließen uns drei ziehen.

Dein Text soll auch hier stehen?