Buchstaben im Kopf
Barbara Acksteiner
Wenn ich das gewusst hätte
»Kannst du mir mal sagen, warum die Kunerts immer vor 15 Uhr ihren Rasen mähen müssen?« Wütend schlägt Konrad sein Wollplaid weg, erhebt sich vom Sofa und sieht seine Frau dabei an, gerade so, als wenn er ihr am liebsten den Hals umdrehen würde.
»Mein Gott, wenn du dich nicht wegen jeder Kleinigkeit aufregen kannst, dann scheint dir was zu fehlen. Sieh mal auf die Uhr. Noch 20 Minuten, dann ist es eh drei«, versucht Irmgard ihren Mann zu beruhigen.
»Klar! War mir schon klar, du und die Kunerts! Ein Pott und ein Deckel. Aber nicht mit mir!« Konrad geht strammen Schrittes an seiner Frau vorbei, und als er an der Garderobe angelangt ist, beugt er sich runter und schlüpft in seine Schuhe.
Keine Minute später reißt er bereits die Terrassentür auf. Und noch ehe ihn seine Frau daran hindern kann, rast er schnaubend vor Wut auf den Gartenzaun seines Nachbarn zu.
Irmgard steht kopfschüttelnd da und murmelt vor sich hin: »Och nee! Nicht schon wieder! Gleich geht der nächste Zirkus los! Die letzte Reiberei liegt erst vier Tage zurück. Warum kann er wegen dieser paar Minuten nicht mal Gnade vor Recht ergehen lassen?«
Noch ehe sie mit sich selbst weiterreden kann, hört sie Konrad schon brüllen: »Hey, Nachbar! Haste mal auf die Uhr geguckt? Kunert, los, mach sofort den Rasenmäher aus!«
Doch als er merkt, dass sein Nachbar ihn keines Blickes würdigt, sondern unverdrossen weitermäht und so tut, als wenn er das wüste Geschimpfe gar nicht hören würde, ist er kurz vorm Explodieren.
Mit hochrotem Gesicht rennt er zum Gartenzaun, fuchtelt wild mit den Armen und schreit: »Freeeeed! Mensch, Kunert, ich weiß doch, dass du mich siehst und auch hörst. Stell endlich das verfluchte Mistding aus! Noch ist Mittagszeit. Freeeeed …!«
Plötzlich ertönt eine weibliche Stimme. »Menschenskinder, Konny, was regst du dich denn so auf. Wir drücken doch auch immer beide Augen zu, wenn du in der Mittagszeit mit deiner Kettensäge deine Bäume stutzt!«
Inzwischen stehen sich Konrad und Regina am Gartenzaun gegenüber. »Ach nee! Die Frau des Hauses meldet sich auch noch zu Wort! Dachte ich’s mir doch, dein Alter braucht Unterstützung. Zieh lieber mal den Stecker raus, damit endlich Ruhe ist!«, keift er Regina, die Frau seines Nachbarn, an.
Irmgard, die mittlerweile auch im Garten angekommen ist und das Geschehen verfolgt hat, weiß nicht so recht, ob sie sich einmischen soll. Denn dann würde es womöglich noch in einen Ehekrach zwischen ihr und ihrem Mann ausarten. Während sie noch überlegt, was sie machen soll, sieht sie, wie Fred in aller Seelenruhe seinen Rasen mäht. So, als wenn ihn das Ganze überhaupt nichts angeht.
»Irmgard«, sie hört ihren Mann rufen, »sag doch auch mal was! Aber nee, da schweigste lieber, wie immer. Du und die Kunerts, die können machen, was sie wollen. Ich bin letztendlich wieder der Streithammel. Aber das kenn ich ja schon.« Jetzt winkt Konrad seine Frau zu sich heran. »Nun komm schon her und sag was, Irmgard!« Wenn Konrad sie mit Irmgard anredet - uihuiui, dann ist die Kacke am Dampfen.
Nun wird es allerhöchste Zeit, dass sie sich einmischen muss. Sie geht auf ihren Mann und Regina zu. Sekunden später stehen sie zu dritt am Gartenzaun und blicken sich an, als wollten sie sich gleich duellieren. Nur Fred, der dreht unverdrossen eine Runde nach der anderen mit seinem Rasenmäher …
»Nun seht euch das an!«, schreit Konrad die beiden Frauen an. »Das ist doch nicht normal! Der Kunert will mich doch absichtlich ärgern! Irmgard, sag was! Und du, Regina, zieh endlich den Stecker raus!«
Während Regina ihrer Nachbarin die Hand zum Gruß hinreicht, meint sie: »Irmgard, du kennst Fred doch. Er will niemanden ärgern. Aber was soll ich denn machen …«
»Dem Rasenmäher den Saft abdrehen!«, schreit Konrad aufgebracht.
»Jetzt? Fünf Minuten vor drei? Konny, das ist nicht dein Ernst!« Regina schüttelt den Kopf und muss lachen
»Ach, nun machste dich auch noch lustig über mich! Haste das gehört, Irmchen? Regina nimmt mich nicht für voll!«
»Rede doch keinen Quatsch, Konny. Natürlich nehme ich dich ernst. Aber warum ist das denn so schlimm, wenn Fred etwas eher zu mähen anfängt? So oft kommt das doch wahrlich nicht vor«, versucht Regina die Situation zu entschärfen.
»Nee, im Sommer nur alle zwei Tage! Wenn das nicht oft ist, dann weiß ich nicht, was oft ist!«, kontert Konrad.
Irmgard, die bis jetzt nur schweigend am Gartenzaun steht, den lauten Disput zwischen den beiden verfolgt und nebenbei ihren Nachbarn beobachtet hat, ist ratlos. Sie weiß beim besten Willen nicht, wie dieser Kleinkrieg enden wird. Und ob überhaupt …
Schließlich nimmt Irmgard ihr Herz in beide Hände und spricht Regina an. »Mit deinem Fred …, das wird wohl auch immer schlimmer?«
Regina sieht sich nach ihrem Mann um. Und als sie sich Irmgard und Konrad wieder zuwendet, sehen die beiden, dass sie weint.
Sofort ergreift Irmgard die Hand ihrer Nachbarin und sagt: »Das wollte ich nicht! Entschuldige bitte!« Gleich darauf hakt sie ihren Mann unter und flüstert ihm zu: »Komm‘ mit, Konrad. Bitte!«
»Nein, Irmgard!«, ruft Regina. »Bleibt. Es ist an der Zeit, dass dein Mann auch erfährt, was mit meinem Fred los ist.«
Ungläubig schaut Konrad die Frauen an. »Ich verstehe nur Bahnhof!«, wirft er ein.
Gerade als sie Regina erzählen will, warum ihr Mann hin und wieder Dinge macht, die er früher nicht getan hat, herrscht absolute Stille im Garten. Fred hat den Rasenmäher ausgestellt. Nun geht er schweigend zur Gartenbank und setzt sich darauf.
»Brauchst nicht ´Tach´ sagen!«, ruft Konrad ihm zu.
Schon bekommt er von seiner Frau einen kräftigen Stoß in die Rippen! »Hörst du endlich auf zu stänkern!«, faucht Irmgard ihn an. »Es reicht! Fred ist krank!«
»Kraaaaank? Mein Nachbar ist krank? Wie? Was hat er denn? Regina, stimmt das? Fredi ist krank? Nee, das glaub ich jetzt nicht!«
Regina wischt sich mit einem Taschentuch die Tränen von ihren Wangen ab. »Doch, Konny«, sagt sie leise, »wir haben schon vor Monaten die Diagnose bekommen. Fred ist an Demenz erkrankt. In der letzten Zeit ist er immer öfter abwesend oder will auf einmal Dinge machen, von denen er sich nicht abbringen lässt. So war es auch heute. Fred wollte unbedingt den Rasen mähen. Und bis 15 Uhr damit zu warten, das wollte er nicht. Ich bin ja froh, wenn er überhaupt noch etwas machen kann und möchte. Ich weiß ja nicht einmal, wie lange mein Fredi noch etwas allein tun kann. Es war mein Fehler, Konny. Ich hätte mich nicht nur Irmgard anvertrauen sollen, sondern auch dir sagen müssen, dass mein Mann dement ist … Aber - ich konnte es nicht!«
Schweigend und in sich gekehrt steht Konrad seiner Nachbarin gegenüber. Er schämt sich für seinen Wutausbruch und kann es nicht fassen, was er gerade erfahren hat.
»Mensch, Regina, es tut mir leid. Kannst du mein Verhalten von eben vergessen? Wenn ich das gewusst hätte … Es ist ja furchtbar! Lass in Zukunft deinen Fred mähen, wann immer er will und wenn ihr Hilfe braucht, dann kommt rüber zu uns. Wir Wölfels helfen den Kunerts jederzeit gerne!«
Sichtlich gerührt stammelt Regina: »Danke, Irmgard, und vielen Dank Konny. Aber jetzt muss ich mich um meinen Fredi kümmern. Nichts für ungut. Bis bald!«
»Komm«, sagt Irmgard zu ihrem Mann, »wir gehen auch wieder rein. Ich koche uns jetzt eine Tasse Kaffee!«
Gerade wollen beide den Gartenzaun verlassen, da sehen sie, wie Fred die Hand hebt und ihnen mit einem Lächeln zuwinkt.
»Mach’s gut, Nachbar!«, ruft Konrad ihm zu, »bis die Tage, man sieht sich!«
»Siehste! Mein Schatz«, sagt Irmchen, »nicht immer gleich lospoltern, sondern zuvor mal fragen, was los ist!«
»Jaja, ich werd’s mir hinter die Ohren schreiben!«, lacht Konrad.
Irmgard ist froh, dass ihr Mann nun endlich Bescheid weiß, und dass sie das Vertrauen ihrer Nachbarin nicht missbraucht hat - auch wenn’s ihr am heutigen Tag sehr schwergefallen ist. Dennoch hat sie ihrem Mann nicht gesagt, was für eine Krankheit sein Nachbar hat. Diese Last, ihrem Mann nichts sagen zu dürfen, hat Regina ihr heute abgenommen.